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Ulrich Greiner

Die Lust, an allem schuld zu sein

Wie der Gedanke der Erbsünde verweltlicht wird und dadurch in unseren Debatten sein Unwesen treibt

Gut möglich, dass das Abendland, wie von manchen behauptet wird, mit dem Christlichen nichts mehr am Hut hat. Allerdings fällt auf, dass religiöse Vorstellungen nach wie vor wirksam sind, wenngleich in verweltlichter Form. Schuld und Sühne, Sünde und Erlösung, Rechtfertigung und Verzeihung – diese christlichen Kategorien bestimmen nicht dem Wort, aber der Sache nach die zeitgenössische Moral noch immer. Doch weil ihnen der Gottesbezug abhanden gekommen ist, fehlt ihnen die letzte Begründung, und folglich werden sie ideologisch.

Mit dem Gedanken der Sünde zum Beispiel können nicht mehr viele etwas anfangen, aber dass wir, die Bewohner der westlichen Welt, eine fortwirkende Schuld auf uns geladen haben, die wir durch tätige Reue tilgen müssen, dieses Argument ist weit verbreitet und wirkt bis hinein in die politische Sphäre.

Für Verzeihung ist nicht mehr Gott zuständig, sondern die Menschheit, und in ihrem Sinn müssen wir die jeweiligen Opfer unseres immerzu verfehlten Lebenswandels um Entschuldigung bitten. Erlösung können wir nicht mehr von einem Jenseits erhoffen, sondern allein von einer diesseitigen Rechtfertigung, die von uns einen Sinneswandel erfordert, eine Umkehr – jene metanoia also, von der im Neuen Testament oftmals die Rede ist.

Luther hatte bezweifelt, dass die Rechtfertigung durch gute Taten gelingen könnte. Er sah im Menschen den Sünder von Anbeginn. Nicht wenige seiner unwissentlichen Nachfolger, die ihn zumeist gar nicht kennen, erblicken ähnlich wie er im schieren Dasein des Menschen ein Übel. Der Begriff des „ökologischen Fußabdrucks“ entwirft das Bild eines Schädlings, der mit jedem Schritt Unheil anrichtet. Im Gegenzug wird „Natur“ zum Ort des Heils. Sie verspricht ein ursprüngliches Paradies, dessen Rekonstruktion auch dann geboten scheint, wenn sie die gezähmte Lebenswelt, die moderne Zivilisation konterkariert.

Der Wolf, den die Märchen und Mythen zahlloser Völker als ärgsten Feind des zahnlosen Menschengeschlechts betrachten, erscheint in den Augen der verweltlichten Eschatologen als die Verkörperung des archaisch Guten. Seine erfolgreiche Wiederansiedelung beweist in ihren Augen, dass die Rückkehr in den Naturzustand gelingen kann. Das berühmte Diktum des Thomas Hobbes in seinem Leviathan (1651), der Mensch sei dem Menschen ein Wolf (homo homini lupus) erhält in der grünen Utopie sein aktuelles Widerwort: Der Mensch ist dem Wolf ein Mensch, nämlich der verderbte Adam, mit dessen Auftauchen der Frieden der Natur dahin war.

Die Natur, was immer darunter verstanden sein soll, wird nunmehr als eine Art Gottheit verehrt, die gnädig gestimmt werden muss. Sie verlangt negative Opfergaben in Form des Verzichts – des Verzichts auf Sicherheit, auf Bequemlichkeit, auf das gute Leben, das immer schon falsch ist. Sie verlangt Askese. Askese ist eine der ältesten religiösen Übungen.

Die Gebote der säkularisierten Rechtfertigung sind unüberschaubar geworden. Der verantwortungsgeplagte Zeitgenosse kann sich leicht darin verirren. Wenn er an die Überfischung der Meere denkt und zum tiefgekühlten Zuchtfisch greift, muss er sich die Verseuchung des Wassers durch Chemikalien vorhalten lassen. Wenn er sich vegetarisch ernährt, wird er überlegen, ob der Verzehr von Salat und Gemüse aus heimischem Anbau je nach Jahreszeit nicht höhere Energiekosten verursacht als Importe aus warmen Regionen. Ersetzt er tierisches Eiweiß durch Tofu, so muss er die mörderischen Umstände des Soja-Anbaus in Rechnung stellen. Packt er seine Einkäufe, um den Plastikmüll zu mindern, in eine Papiertüte, so hört er zu seinem Kummer, dass die Herstellung von Papiertüten energieaufwendig und umweltschädlich ist. An Urlaubsreisen darf er gar nicht denken. Fliegen wäre kriminell, das Auto verbietet sich und die Bahn kann er sich nicht leisten. So steigt er denn auf sein Fahrrad und träumt von der Postkutsche.

Niemand, der vernünftig ist, bezweifelt die Notwendigkeit, Ressourcen zu schonen und mit Tieren anständig umzugehen. Im Kern ist das ein Problem, das ordnungspolitische Antworten erfordert. Wenn jemand, der eine Familie zu ernähren hat und knapp bei Kasse ist, im Supermarkt Schweinefleisch kauft, das billigste und effizienteste Nahrungsmittel, dann liegt die Schuld, wenn es denn eine gibt, nicht bei ihm, sondern bei einer Agrarpolitik, die der Fleischindustrie mit Subventionen und nachlässigen Kontrollen zuarbeitet. Der Fleischverzehr ist keine moralische Frage, sondern eine politische.

Der ökologische Moralismus jedoch verlagert die Entscheidung ins Innere des Subjekts. Es entsteht so etwas wie eine pseudochristliches Sündenkonto. Wie einst der Christ seinem Gewissen gegenüber verantwortlich war und auf Gottes Gnade hoffte, so ist der Pseudochrist einem Weltgewissen gegenüber verantwortlich, das keine Gnade kennt. Allein die Tatsache, dass er dem christlichen oder ehemals christlichen Abendland angehört, jener kulturell und wissenschaftlich dominanten Sphäre, in die zu gelangen viele Menschen ihr Leben riskieren, allein dies macht ihn zum Täter. Er lebt, so weiß es die herrschende Kritik, auf Kosten der Armen und Entrechteten.

Damit nicht genug: Als Nachkomme jener Vorväter, die den Kolonialismus ins Werk gesetzt haben, sieht sich der Bewohner des Abendlandes mit einem Schuldvorwurf konfrontiert, der ihn dazu bewegen soll, alle Flüchtlinge in einem Akt der Wiedergutmachung willkommen zu heißen – als ob die Urenkel oder Ururenkel eine Schuld geerbt hätten, die kaum jemals zu tilgen wäre.

Eine Kollektivschuld kann es nicht geben, weil Schuld nur einem Individuum zurechenbar ist. Davon abgesehen lässt sich der historische Prozess mit Kriterien der Moral nicht hinreichend verstehen. Eroberungen, Unterwerfungen hat es immer gegeben, und zumeist waren sie die Folge ökonomischer, wissenschaftlicher, kultureller Überlegenheit.

Oftmals jedoch wurden aus den ehemaligen Verlierern die Sieger von morgen. Und nicht selten haben die Verlierer von den Siegern profitiert. Es wäre absurd zu leugnen, dass viele der kolonisierten Völker einer zukunftsfähigen Welt begegnet sind, die ihr Leben erleichtert und der sie nicht ohne Erfolg nacheifern.

Vorherrschend jedoch ist das ideologische Konzept, die vergangenen Jahrhunderte als eine Unterdrückungs- und Verelendungsgeschichte zu betrachten, deren Urheber die Bewohner der westlichen Welt seien. Als ob nicht Zeit genug verflossen wäre, dass die einst Unterlegenen ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen könnten, was ja nicht wenige getan haben und noch tun. Doch die Schuld, die auf uns gekommen ist wie ein Fatum, verlangt stetige Sühne.

Wir stoßen hier auf den Begriff der Erbsünde. Im Alten Testament kommt er nicht vor. Wohl erzählt die Genesis von der Vertreibung aus dem Paradies. Die Ursache liegt in der Entscheidung des Menschen, das göttliche Verbot zu missachten. Damit nimmt er die Freiheit in Anspruch, die Gott ihm geschenkt hat. Zwar kann man mit Robert Spaemann sagen, die höchste Verwirklichung der Freiheit hätte darin bestanden, dem Willen Gottes zu folgen. Aber die Logik der Freiheit besteht eben darin, dass sie zum Bösen wie zum Guten gebraucht werden kann. Diesen philosophisch-existenziellen Gedanken verhandelt die Genesis nicht in Form des Traktats, sondern der mythischen Erzählung. Sie begründet den ambivalenten Charakter der Freiheit.

Das Paradies ist verloren, Paradise lost, wie John Miltons Epos (1667) heißt. Seit dem Sündenfall ist das Böse ist in der Welt, seitdem lebt der Mensch im Angesicht des Todes. Mehr sagt das Alte Testament nicht, und im Neuen Testament kommt die Erbsünde gar nicht vor.

Paulus jedoch erwähnt in seinem Brief an die Römer (5,12) den Gedanken der Genesis, dass durch Adam Sünde und Tod in die Welt gekommen seien, und er verbindet ihn mit der Erlösung durch den Kreuzestod: „Wie es durch die Übertretung eines Einzigen für alle Menschen zur Verurteilung kam, so kommt es auch durch die gerechte Tat eines Einzigen für alle Menschen zur Gerechtsprechung, die Leben schenkt.“ (Röm 5,18)

Erst Augustinus, verleitet durch einen Fehler der lateinischen Übersetzung (er konnte die Paulus-Briefe im Original nicht lesen, da er das Griechische nicht beherrschte), entwickelt die Theorie einer Urschuld, die von Geschlecht zu Geschlecht vererbt werde, und der Augustinermönch Luther radikalisiert das Argument, indem er den Menschen als ein von Grund auf sündhaftes Wesen ansieht, das auf Gottes Gnade hoffen, ihrer jedoch niemals sicher sein darf. Die katholische Kirche hingegen hat der Idee von der Erbsünde immer misstraut. Das Konzil von Trient (1545 bis 1563) etwa befand, dass die Erbsünde durch die Taufe vollkommen getilgt werde.

So gering die Rolle der Erbsünde im heutigen Christentum auch ist, so sehr taucht sie an unerwarteter Stelle und in veränderter Form heute wieder auf. Nach dem Tod Gottes wendet sich der Mensch auf sich selbst zurück. Er allein ist nun derjenige, der Schuld und Sühne verhängen, der Gnade und Rechtfertigung gewähren kann.

Die Erbsünde geht, der Verdacht bleibt“, schreibt der Philosoph Horst G. Hermann. Nach der Verabschiedung der Erbsünde und des Jüngsten Gerichts seien „Sündenfälle und Jüngste Gerichte aller Art“ entstanden, „Projektionsflächen für die Arbeit an einem zivilreligiösen Glauben, der einer Überhöhung und Verabsolutierung von Schuldzusammenhängen ebenso bedarf wie der unnachsichtigen Verfolgung ihrer Leugnung oder Relativierung.“ (Im Moralapostolat – Die Geburt der westlichen Moral aus dem Geist der Reformation, Manuscriptum Verlag 2017)

Das Jüngste Gericht findet nun täglich im Netz statt, und an die Stelle der christlichen Heilserwartung ist die säkulare Unheilserwartung getreten. Dass die von Gott geschaffene Welt trotz aller Kriege und Katastrophen eine schöne, eine zu bewundernde Welt sei, spielt in der gegenwärtigen Zeitstimmung keine Rolle mehr. Jetzt lernen die Kinder schon in der Schule, dass der Mensch ein Übeltäter ist. Die Apokalypse scheint allgegenwärtig.

Die Apokalypse aber, von der Johannes berichtet, ist die Offenbarung. Diejenigen, die heute von der Apokalypse reden und damit vornehmlich die Klimakatastrophe meinen (vor nicht allzu langer Zeit war es noch der Atomtod), wissen zumeist nicht, dass apokalypsis „Enthüllung, Offenbarung“ bedeutet und die endzeitliche Vision der Wiederkunft Gottes schildert.

Die Lutherische Erbsündenlehre war insofern fair, als sie keine Unterschiede machte. Die neue Lehre macht sie durchaus. Es ist der Mann, der weiße Mann, der weiße alte Mann, der im Zentrum des Verdachts steht. Er verursacht die Klimakatastrophe, betreibt den Raubbau an der Natur, er ist verantwortlich für Rassismus, Sexismus, Kolonialismus und all die anderen schrecklichen Ismen. Das Tribunal, das überall errichtet wird, kennt natürlich auch kleinere, von Fall zu Fall wechselnde Übeltäter: den Dieselfahrer, den Raucher, den Fleischfresser, den Islamkritiker.

Für das Böse, das es seltsamerweise immer noch gibt, muss irgend jemand verantwortlich sein. Wenn es nicht der Teufel ist, dann muss es unser Nachbar sein.

Der Beitrag erschien im Oktober 2018 in der ZEIT.


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