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Ulrich Greiner

Die Schule der Formen
Über die "Frankfurter Anthologie"

Der Beitrag wurde 1999 zum 25jährigen Bestehen der von Marcel Reich-Ranicki herausgegebenen "Frankfurter Anthologie" geschrieben und erschien gekürzt in der FAZ.

Am 20. Juli 1960 erschien im Feuilleton der FAZ das Gedicht eia wasser regnet schlaf von Elisabeth Borchers. Die 32 zarten Zeilen wurden zum Skandal. Sie versetzten die Leserschaft in Aufruhr. Die Redaktion erschrak über die Flut böser Briefe. Der damalige Mitherausgeber Karl Korn entschloß sich, der Autorin Platz für eine Entgegnung einzuräumen. Tapfer und mit resignativem Unterton wehrte sie sich gegen die Vorwürfe der „Volltrunkenheit“, der „Verdummung“ und der „entarteten Kunst“. Korn beendete die Diskussion mit einer auch ins Politische und Konfessionelle ausgreifenden Anmerkung zum „Nutzen und Nachteil der Tabus“, worin er einerseits die zivilisatorische Notwendigkeit mancher Tabus konstatierte, andererseits aber die Kritik jener Tabus forderte, die sich bloß einer denkfaulen Konvention oder gar ideologischen Absicht verdankten.

Heute wirkt es merkwürdig, dass ein einziges argloses Gedicht solchen Wirbel und solche Kanzelrede auslösen konnte. eia wasser regnet schlaf gehört noch immer zu den schönsten Gedichten der Dichterin Elisabeth Borchers, und keiner, der es heute läse, fühlte sich dadurch verletzt, weder durch die Kleinschreibung noch durch das traumverlorene Spiel mit Wortklängen, Märchenmotiven und Mythenzauber. Eine der Pointen der Debatte bestand darin, dass viele Leser die Shanty-Zeile „What shall we do with the drunken sailor“ offenbar nicht kannten und ernsthaft fragten, weshalb man den Matrosen („was sollen wir mit dem ertrunkenen matrosen tun“, hieß es abweichend bei Borchers) nicht anständig bestatte.

Was sich seinerzeit in den Leserbriefen Bahn brach, war natürlich und nebenbei auch der reaktionäre Stammtisch, der sich jetzt, fünfzehn Jahre danach, wieder traute. In der Hauptsache aber war es die schiere Unkenntnis einer literarischen Tradition, die durch tausend Nazijahre ausgeblendet, unterbrochen, vernichtet worden war. Vielen Dichtern, die nach dem Krieg an die Moderne anzuknüpfen versuchten, widerfuhr eine ähnliche, manchmal heftigere Ablehnung – darunter Wolfgang Koeppen, der seinem Roman Tauben im Gras (1951) programmatisch ein Motto von Gertrude Stein vorangestellt hatte.

Damals wurde die Frontlinie zwischen einem rückwärts gewandten Literaturkonservatismus und einer ins Experimentelle und Offene gerichteten Avantgarde allmählich klar. Sie verlief auch mitten durch die FAZ. Auf der einen Seite Friedrich Sieburg (er leitete die Literaturbeilage seit 1956), der mit der zeitgenössischen Literatur, etwa mit der Gruppe 47, wenig anzufangen wußte; auf der anderen Karl Korn, der sich von Zustimmung und Widerspruch hin- und herreißen ließ und neugierig auf alles Neue war.

Die atemberaubende Beschleunigung, mit der sich die Bundesrepublik technisch und ökonomisch modernisierte, ergriff auch die Literatur, und heute, da in allen Stilen zugleich gedichtet wird, wahlweise mit oder ohne Endreim und Versfuß, erscheint die Erinnerung an die eia wasser regnet schlaf-Affäre wie ein Familienzwist am Nierentisch. Aber es gab auf dem Weg in die Gegenwart noch ein paar Zwischenstationen, und eine davon ist ein Streit, den der Lyriker Hans-Jürgen Heise 1982 in der ZEIT vom Zaun brach. „Wie depressiv sind unsere Poeten?“, fragte er und beklagte die verbreitete „Miesepetrigkeit“, die „Eiszeit- und Endzeitgedichte“.

Wir erinnern uns: Es war die Zeit einer galoppierenden Katastrophensehnsucht, und die apokalyptischen Gäule der Atomraketen lagen gut im Rennen. Heises treuherziges Beharren auf den schönen Seiten des Lebens erinnerte allzusehr an den verordneten Frohsinn gegenwärtiger wie vergangener deutscher Diktatur, und so machte er es seinen Kontrahenten (Günter Kunert, Peter Härtling, Karl Krolow, Michael Krüger und Adolf Muschg) relativ leicht. Überflüssig zu sagen, dass auch diese Debatte, die von der Redaktion mit einigen Zweifeln an ihrer Notwendigkeit ins Blatt gerückt wurde, ein gewaltiges Echo unter den Lesern auslöste.

Es fällt aber auf, wie leicht die zeitkritischen Poeten es sich selber machten und wie wenig sie imstande waren, auf den Grundverdacht Heises zu antworten. Er bestand darin, dass die Rolle der Kassandra, die unter Intellektuellen notorisch beliebt ist, ästhetisch unfruchtbar zu werden droht, sobald sie zur Routine wird. Peter Härtlings Eingeständnis, ihm liege, denke er nur an den Krieg in Beirut oder an die Startbahn West, „Asche auf der Zunge“, und Günter Kunerts obligater Hinweis auf „Auschwitz und Hiroshima“ hätten ja durchaus den Gedanken einräumen können, dass man die großen Katastrophen des Jahrhunderts nicht durch die kleinen Katastrophen schlechter Gedichte mildert.

Aber darum ging es nicht. Und das ist ein zweites, was an der Heise-Kunert-Debatte ebenso merkwürdig ist wie an der Borchers-Debatte 22 Jahre zuvor: Es spielten vor allem Fragen des Inhalts, der Gesinnung, heute würde man sagen der politischen Korrektheit eine Rolle. Während das Wichtigste, die ästhetische Eigenart und die Formensprache des Gedichts, allenfalls am Rande berührt wurde.

Elisabeth Borchers benennt in ihrer Replik die simple Tatsache, dass Gedichte weder Nachrichten noch Leitartikel sind. Wären sie es, würde man lieber Nachrichten und Leitartikel lesen. Gedichte liest man, wenn man sie liest, wegen ihrer Melodie, ihrer Bilder, ihres Sprachspiels. „Ein Lied zu singen / mit nichts als der Absicht / ein Lied zu singen, / ist eine schwere Arbeit“, schrieb Rolf Dieter Brinkmann 1975 in seinem Gedichtband Westwärts 1 & 2. 1982 hatten es die ZEIT-Diskutanten offenbar wieder vergessen.

Es scheint, als vergäßen es die Deutschen immerzu. Dabei kann man kaum einem anderen Volk nachsagen, dass es dermaßen vom lyrischen Wollen durchdrungen sei. Dass die Deutschen mehrheitlich Gedichte schreiben, kann ein jeder durch informelle Umfragen im Bekanntenkreis herausfinden, vorausgesetzt, er wäre mit dem befragten Autor so intim, dass dieser sich bereit fände, sein Herz, also seine Schublade zu öffnen. Denn noch immer gilt das Missverständnis, Lyrik sei das Authentischste und Privateste, als wäre sie eine Art von Tagebuch, befreit von Zwängen objektiver Art, etwa des handwerklichen Könnens.

Der Verdacht, es gebe allzeit mehr Produzenten als Leser oder gar Käufer von Lyrik, ist begründet. Verleger wissen, dass Gedichtbände selbst bekannter Autoren selten ihre Deckungsauflage erreichen – von denen unbekannter Autoren ganz zu schweigen. Arno Schmidt hat einmal die Menge ernsthafter Leser mit der Formel „Dritte Wurzel aus p“ (p gleich Population eines gegebenen Landes) beziffert. Das wären bei 80 Millionen Deutschen etwa 430 Leser. So hoch ist in der Regel die verkaufte Auflage eines kleinen Lyrikbandes, nach Abzug der Frei- und Rezensionsexemplare.

Wir können unterstellen, dass jeder halbwegs gebildete Deutsche Gedichte schreibt oder geschrieben hat, dass er aber keineswegs Gedichte liest, die eigenen vielleicht ausgenommen. Das würde erklären, weshalb die erwähnten Lyrikdiskussionen einen solchen Zorn auslösten. Die Leser empörten sich darüber, dass den Gedichten eines Konkurrenten soviel Aufmerksamkeit zuteil wurde – noch dazu solchen, die sie schlecht fanden und selber nie geschrieben hätten.

Das Muster dessen, was ein Gedicht sei, haben wir zumeist mit der Muttermilch eingesogen, mit Schlafliedern und Kinderreimen und Wilhelm-Busch-Versen. Und später fanden wir es ausgeprägt im klassischen Schulfundus von Schiller und Goethe bis Mörike und Rilke etc. Das Gedicht ist sozusagen keine literarische Gattung mit historischem Umfeld, sondern eine ursprüngliche Seins- und Ausdrucksweise. Weshalb ja kein Krieg, ob im Golf oder im Kossovo, ins Land gehen kann, ohne dass nicht besorgte Feierabendpoeten ihre lyrischen Kommentare an die Zeitungen schicken.

All dies ist nicht neu, aber etwas hat sich verändert. Seitdem die ZEIT jede Woche aus eben erschienenen Gedichtbänden Beispiele druckt, ist die Zahl der Leserzuschriften erwartungsgemäß sprunghaft angestiegen. Ebensowenig überraschend ist die Tatsache, dass der weitaus größte Teil der Einsendungen aus selber verfassten und zum Abdruck angebotenen Gedichten besteht. Diese Gedichte aber lassen kein literarisches oder vorliterarisches Grundmuster mehr erkennen. Sie sind auf eine diffuse und oftmals trostlose Weise modern. Befreit vom Zwang der klassischen Formensprache, die bekanntlich zwischen „ungebundener“ Rede (Prosa) und „gebundener“ (Drama, Lyrik) unterschied, erscheint nun jegliche Empfindung, die auf dem Weg zu einem Satz ins Stocken kam, und jeglicher Satz, der sich in Zeilen brechen lässt, als prinzipiell lyriktauglich.

Man wird den namenlosen Poeten nicht vorhalten dürfen, sie riskierten das Außerordentliche. Sie richten sich lediglich nach dem, was in der gegenwärtigen Lyrik, die schon seit längerem in eine Phase der entschiedenen Deregulierung und des völligen literarischen Freihandels eingetreten ist, zur schieren Konvention wurde. Die ist keineswegs schlechter oder besser als etwa der Endreimzwang, der heute bei Büttenreden oder Betriebsfeiern ein trauriges Dasein fristet und die Verfasser kaum mehr quält als die Zuhörer.

Im Rückblick erscheint die wahrlich nicht sehr erregende Heise-Kunert-Debatte als eine der letzten fundamentalen Erregungen vor jener Windstille und totalen Vergleichgültigung, die wir Postmoderne nannten. Dass die nun auch wieder vorbei ist, mag man als eines der wenigen erfreulichen Zeichen dieser Jahre betrachten. Bis dahin schien es schlechterdings undenkbar, dass ein Gedicht oder das Gespräch über Gedichte wieder öffentliches Thema sein könnten. Wenn alles erlaubt und alles egal ist, dann mag ein jeder schreiben, was und wie er will, am Ende zählt nur der Erfolg.

Der Protest, den eia wasser regnet schlaf auslöste, stützte sich noch auf die fest umrissene Vorstellung dessen, was ein Gedicht sei. Die Kulissen klassischer Bildung standen noch sichtbar auf der literarischen Bühne. Erst Mitte der sechziger Jahre wurden sie endgültig abgeräumt. Das Stück, das jetzt gespielt wurde, hieß „Nieder mit der bürgerlichen Literatur“. Es machte allen Beteiligten großen Spaß, und aus dem Spaß entstand eine neue und wahrscheinlich wiederum bürgerliche Literatur.

Die Spaßmacher jedoch hinterließen ihren Kindern in schreckliches Erbe. Wenn jede Generation das Recht hat, irgendwann „Nieder mit...“ zu rufen, dann waren die Kinder der Achtundsechziger betrogen, weil sie keine Gegenstände mehr hatten, die niederzureißen lohnenswert gewesen wäre. Sie kannten weder Goethe noch Hölderlin, und Mörikes Lampe war ihnen Hekuba.

Lange Zeit schien es zum Beispiel hinnehmbar, dass die Teilnehmer eines Hauptseminars über Handke geschlossen bekannten, noch nie eine Zeile von Stifter gelesen zu haben. Dies geschah vor zwei Jahren an einer nordrhein-westfälischen Hochschule und war keineswegs untypisch. Aber einige Anzeichen deuten darauf hin, dass dies sich ändert. Es regt sich das Bedürfnis nach literarischer Kenntnis. Lehrer berichten, Schüler wollten wieder den Faust lesen. Sie äußern den Wunsch weniger aus der tiefen Sehnsucht nach großer Dichtung oder gar aus Gründen bildungsbürgerlicher Beflissenheit, sondern eher, weil sie sich, in einer Welt des gleichgültigen und ubiquitären Konsumismus lebend, einen Distinktionsgewinn davon erhoffen. Und im Deutschunterricht wächst wieder die Neigung zur verbindlichen Lektüre der großen Werke. Man begreift allmählich, dass jede Generation das Recht haben muss, mit dem literarischen Erbe traktiert zu werden, damit sie sich daran ausbilden kann, was in der Regel heißt, dagegen. Vielleicht kommen ja für die Literatur nach den schlechten Zeiten die guten.

Das Gefühl des „anything goes“ war am Ende Ausdruck eines luxurierenden Überdrusses an Verbindlichkeit. Nachdem die literarische Moderne, bis hin zur konkreten Poesie, eine tabula rasa der Formen hinterlassen hatte, entstand naturgemäß eine neue Suche nach formaler Relevanz. Robert Gernhardts berühmtes Gedicht „Sonette find ich so was von beschissen“ ist ja mehr als nur ein Witz, sondern unter anderem auch ein Sonett.

Es ist nicht auszuschließen, dass die „Frankfurter Anthologie“ ihren Anteil an der Wiederkehr des literarischen Interesses hat. Als Marcel Reich-Ranicki die Kolumne vor 25 Jahren ins Leben rief, konnte er nicht wissen, wie wichtig es sein würde, lyrische Standards dadurch in Erinnerung zu rufen, dass man sie Woche für Woche an Beispielen vorführt und interpretiert. Denn damals, 1974, war die literarische Welt noch vergleichsweise in Ordnung, wenn auch nicht unbedingt für Reich-Ranicki. Sein literarischer Wertkonservatismus hat ihn immer allergisch sein lassen gegen die Missachtung der Tradition. Niemand außer ihm selber hat damals geglaubt, die Kolumne werde mehr als fünfzig, höchstens hundert Folgen andauern. Aber sie wurde eine Institution.

Bei jeder wahren Institution spürt man die Lücke, die sie füllt, umso deutlicher, je länger die Institution währt. Es scheint nämlich, als wäre mit dem Andauern der „Frankfurter Anthologie“ immer sichtbarer geworden, welch ungehobenen Schatz die deutsche Literatur darstellt. Woche für Woche, und das rund eintausenddreihundertmal, hat sie den Lesern vorgeführt, was sie zu ihrem eigenen Schaden zumeist nicht kennen. Denn das Nichtkennen oder Nichtlesen der literarischen Werke schadet ja nicht den Werken. Die bleiben, bis irgendwann jemand kommt und sie wahrnimmt. Es schadet uns, weil wir weniger von unserer Welt, unserer Geschichte und uns selber wissen, als wir wissen könnten.

Niemand wird behaupten, alle Gedichte der „Frankfurter Anthologie“ seien gut. Aber fest steht, dass ein jedes von mindestens zweien für gut befunden wurde, vom Herausgeber und vom Interpreten. Und da der Interpret genötigt ist, seine Auswahl, seine Liebe oder Neigung zu diesem einen Gedicht zu begründen, kann er nicht umhin, die Sprache, die Gestalt näher zu beschreiben und ihre Schönheit oder Angemessenheit darzulegen. Es bedeutet, dass jede dieser Interpretationen auch eine Betrachtung der Form einschließt. Vielleicht ist es das größte Verdienst dieser Institution: dass sie Gedicht und Formbewußtsein zusammenbringt.

Durch die Schule der „Frankfurter Anthologie“ gegangen würden die Leser wahrscheinlich ein Gedicht wie eia wasser regnet schlaf anders und besser verstehen. Nicht, dass es ihnen unbedingt gefallen müsste, denn keine Interpretation kann ein spontanes Nichtmögen in Zuneigung umkehren. Aber einige der unverständigen Anwürfe von damals würden heute so nicht mehr vorkommen. Insofern hat die „Frankfurter Anthologie“ ihre Schuldigkeit getan. Aber gehn darf sie nicht – der Unverstand wächst alle Tage nach.



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