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Ulrich Greiner

Falsche Musik, falsche Zufälle

Ein Gespräch unter Literaturfreunden über Leon de Winters neuen Roman "Malibu"

Neulich traf ich meine alte Freundin A., die Leserin. Sie liest alles, was sie in die Hände bekommt, sogar Bestseller. "Ich weiß gar nicht, was du gegen Bestseller hast", hat sie einmal gesagt, "da sind gute Bücher drunter. Außerdem muss man wissen, was die Leute so mögen." Ich habe keine Zeit für Bestseller. Ich lasse mir davon erzählen. Ich fragte sie, was sie gerade lese. "Leon de Winter, Malibu", sagte sie, "ziemlich gut, vor allem spannend, ich kann gar nicht aufhören damit."

"Und was ist daran gut?"

"Erstens der Schauplatz. Malibu ist schon mal besser als Mönchengladbach." Mir fiel ein, dass A. von dort stammt. "Und dann geht es gleich dramatisch los. Der Held ist ein Drehbuchautor, Ende 40, seine Frau hat ihn vor Jahren verlassen, jetzt lebt er allein mit seiner Tochter Mirjam in Venice. Mirjam wird 17, eine ganz Süße und sehr sexy. Heimlich fährt sie an ihrem Geburtstag mit ihrem Fitness-Trainer nach Malibu, hinter ihm auf seiner Harley. Dann, auf dem Pacific Coast Highway, eine Ölspur. Das Motorrad rutscht weg, der Fahrer überlebt, sie fliegt unter ein Auto, kommt tödlich verletzt in die Klinik, stirbt, der Vater ist verzweifelt."

"Na ja", sagte ich, "klingt wie eine Zeitungsmeldung."

"Klingt so, aber du musst sehen, wie de Winter das macht. Die Katastrophe ist Zufall, aber was heißt das? Woher kommt die Ölspur? Von der beschädigten Ölwanne eines Lkw. Und warum ist sie beschädigt? Durch ein Erdbeben. Und warum das Erdbeben? Wegen der Kontintalverschiebung vor x Millionen Jahren. Das wird alles an den Anfang gestellt, in kurzen Kapiteln. Da wird ganz trocken die Geschichte des Lastwagens berichtet, die Geschichte des Fahrers, die Geschichte der Frau, unter deren Auto Mirjam fliegt, die Geologie Kaliforniens. Du begreifst, was Kontingenz bedeutet. Unser Schicksal hängt an vielen Fäden, und wenn einer reißt-"

"Und dann?"

"Ich bin erst am Anfang, aber das musst du unbedingt lesen."

Also gut. Tage später rief meine Freundin an. "Und?"

"Liest sich rasant, stimmt", sagte ich, "nicht schlecht, wie er gleich mit der schlimmstmöglichen Wendung startet. Ich frage mich nur, was er danach noch machen will."

"Wo bist du gerade?"

"Er hat das Herz seiner Tochter für eine Transplantation freigegeben, ist völlig am Boden, trinkt nur noch, und dann kommt dieser schwarze Riese, der Trainer, bittet um Verzeihung und legt sich ihm zu Füßen, samt seinem ganzen Geld, ziemlich viel, er hat seinen Fitness-Club verkauft. Eine seltsame Männerfreundschaft entsteht, nicht schlecht."

"Genau. Und dann meldet sich Philip wieder, dieser Bekannte aus der holländischen Jugendzeit, beide sind ja Juden, und bittet ihn um Mitarbeit für den israelischen Geheimdienst. Er will erst nicht, aber dann doch. Ich bin gespannt."

Um die Wahrheit zu sagen, hatte ich Zweifel, aber ich wollte meiner alten Freundin nicht widersprechen und dachte, mal sehen. Ich las weiter bis zu dem Punkt, als Linda auftaucht, eine Jugendgeliebte, mit der er die ersten heißen Orgien erlebt hat. Sie ist Buddhistin geworden, kahl rasiert, aber immer noch sexy. Sie kommt ihm mit seltsamen Reinkarnationsgeschichten, aber sie vögeln wieder ganz toll. Dann braucht er Geld, und er observiert einen Mann, den der Geheimdienst für einen holländischarabischen Terroristen hält. Die beiden freunden sich an und betrachten den knackigen Hintern der Kellnerin in dem Restaurant, wo beide immer essen. An dieser Stelle verlangsamt sich die Geschichte, so dass ich anfing, auf die Sprache zu achten. Da meine Freundin nicht ans Telefon ging, schrieb ich ihr eine E-Mail:

"Liebe A., ich bin zwar noch nicht am Ende, aber de Winter kann nicht schreiben. Pardon, guck dir mal diese Sätze an: ,Das Primavera war ein kleines italienisches Restaurant mit unzähligen typischen Venedig-Fotos und einer Nussbaumtäfelung an den Wänden, die, wenn man saß, bis etwa über Schulterhöhe reichte. Der Raum maß höchstens acht mal acht Meter und war mit weißgedeckten Tischchen - die meisten für zwei, ein paar auch für vier Personen - vollgestellt. Die Mehrzahl der vorhandenen Stühle wurde von nachlässig bekleideten Besuchern eingenommen, die lebhaft redenden und Pellegrino trinkenden junior agents an den Lippen hingen.' Hast du schon mal so was Einfallsloses gelesen? Und so schreibt er andauernd, achte mal darauf. Es ist furchtbar banal. Oder?"

Die Antwort kam zwei Stunden später. "Lieber U., dass de Winter nicht schreiben kann, ist mir inzwischen leider auch aufgefallen, er schiebt ja nur seine kalifornischen Kulissen über die Bühne, da wäre mir Mönchengladbach am Ende doch lieber. Aber das Schlimmste ist was anderes. Ich habe das Buch jetzt zu Ende gelesen und dachte, das kann doch nicht wahr sein. Ich drehte das Buch um, als ob noch etwas darunter liegen müsste. Lag aber nicht. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass der Mann seiner Geschichte dauernd die absurdesten Wendungen geben muss, weil er nicht weiß, wie er sonst das Anfangstempo halten kann, und das Ende ist genau der Zufall, der aus der Ratlosigkeit des Autors entstanden ist. Da kommt zum Beispiel diese Sache mit der Wiedergeburt, die aber ein Bluff ist, weil Linda und ihr als Mönch verkleideter Kumpan nur an das Geld wollen, das eigentlich unserem Helden gehört. Es liegt auf einer schweizerischen Bank, stammt von seinem Großvater, der in den Lagern umgebracht worden ist. Wenn de Winter nicht Jude wäre, würde ich sagen, dass mir das irgendwie antisemitisch vorkommt, diese Mischung aus Geld, Auschwitz und Sex. Die Frauen sind immer scharf, der Jude immer geil, und einmal träumt er vom Inzest mit seiner Tochter. Am Ende sieht es sogar aus, als wären der Unfall und die Transplantationsgeschichte Machenschaften des israelischen Geheimdienstes. Aber das bleibt offen wie eine Tür, die versehentlich nicht zugemacht wurde. Da zieht es ganz mächtig. Was mich aber am meisten ärgert, ist, dass er dieses ganze Durcheinander mit Sachen wie Quantenmechanik und Stringtheorie aufdoktern will, und erst mal war ich davon ganz beeindruckt, weil ich davon nichts verstehe, jetzt aber bin ich sicher: Das Ganze ist ein gigantischer Bluff. Ich bin richtig sauer. Tut mir leid, dass ich Dich da reingezogen habe. Deine A."

Wir sahen uns nach einer Woche zufällig im Theater und gingen danach essen. Der insgesamt gelungene Mordversuch an einem Lessing-Stück war nicht weiter der Rede wert, und so kamen wir rasch auf Malibu. "Ich finde, du hast in deinem letzten Brief vollkommen Recht", sagte ich, "und doch auch wieder nicht, denn ich hätte den Roman in einem Rutsch gelesen, wenn ich Zeit gehabt hätte, das muss ich zugeben."

"Eben. Manchmal bin ich ganz wild auf Marzipan, dann bestelle ich mir ein Stück Marzipantorte, esse es bis zum letzten Krümel, und dann fühle ich mich ganz elend."

"Aber die Leute lesen so was gerne. Ich glaube nicht, dass sie sich danach immer elend fühlen. Leon de Winter wird sogar von Kritikern gelobt."

"Ich kann dir sagen, warum. Erstens ist er sympathisch, das sagen alle, die ihn kennen. Ich kenne ihn nicht, aber er ist auch sympathisch, wenn man ihn nicht kennt. In Malibu kommen all die Sorgen vor, die man heute so hat: das allgemeine Gefühl der Unsicherheit, die Angst vor einem Unglück, die schreckliche Vergangenheit, die schreckliche Gegenwart mit all ihren Verschwörungstheorien. Aber es gibt bei ihm keine wirklichen Bösewichte, keine wirkliche Gemeinheit. Alle Helden der Geschichte sind mehr oder weniger sympathisch, irgendwie nett. Sie sind Opfer anonymer, unbegreiflicher Vorgänge. So fühlen wir uns alle. Und nett und sympathisch sind wir ja auch, du jedenfalls."

"Dieses Kompliment will ich dir noch mal verzeihen", sagte ich. "Aber du hast geschrieben, Leon de Winter könne nicht schreiben. Das finde ich übertrieben."

"Erstens hast du das gesagt, und zweitens stimmt, dass er absolut clever ist. Seine Dialoge sind okay, er ist wirklich ein Drehbuchautor. Er beherrscht die Dramaturgie einer Szene. Aber wozu?"

"Ich glaube, er will seine Leser unterhalten, amüsieren, und er will sie außerdem auf ein paar Dinge aufmerksam machen, die sie sonst nicht so sehen, auf metaphysische Sachen oder so was."

"Kann schon sein. Aber er gibt sich keine Mühe, das ist schlampig gemacht. Nimm mal Paul Austers Roman Die Musik des Zufalls. Da geht es auch um die Herrschaft der Kontingenz. Das ist auch spannend, aber wirklich intelligent und präzise gearbeitet."

"Jaaa! Aber das ist was anderes."

"Wieso?"

"Das ist Literatur."

Leon de Winter: Malibu
Roman; aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers;
Diogenes Verlag, Zürich 2003; 416 Seiten

Erschienen in der ZEIT am 27.2.2003


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