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Ulrich Greiner

Wider den Kulturrelativismus

Der Mordaufruf gegen Rushdie spaltet die westliche Welt. Er beschädigt die schöne Idee von der multikulturellen Gesellschaft, in der alle Traditionen und Religionen gleiches Recht haben. Haben sie das? Wenn die Menschenrechte für alle gelten sollen, dürfen wir nicht tolerant gegen Intoleranz sein. Wer Rushdie verteidigt, muss das Erbe der Aufklärung verteidigen.

Der folgende Beitrag erschien in der ZEIT vom 5. Juni 1992


Der Fall Rushdie ist nicht ausgestanden. Für den Autor nicht, der sich seit dem 14. Februar 1989 auf der Flucht vor seinen Mördern befindet, und für uns nicht, seine Leser. Natürlich haben wir uns darüber empört, dass ein Schriftsteller wegen eines von Moslems für blasphemisch gehaltenen Romans sterben soll. Die Kunst, so glauben wir, sei frei. Der Roman „Satanische Verse“ des britischen Staatsbürgers indischer Herkunft Salman Rushdie ist ein Kunstwerk. Und damit basta. Oder, wie Rushdie in einem Interview mit der ZEIT gesagt hat: „Was geschehen ist, ist sehr einfach: Jemand hat ein Buch geschrieben, jemand will ihn dafür töten. Das ist keine intellektuelle Debatte. Das ist Gangstertum.“

Die Fronten sind anscheinend klar: Der mittelalterliche Fundamentalismus des Orients kämpft gegen den aufgeklärten Liberalismus des Okzidents. Die Fronten sind aber keineswegs klar. Wenn wir Richard Websters kürzlich erschienene Streitschrift „Erben des Hasses – Die Rushdie-Affäre und ihre Folgen“ (Knesebeck Verlag) als Indiz nehmen, so kann die zivilisierte Welt sich keineswegs entscheiden, wie sie in diesem Konflikt reagieren soll. Sie ist gespalten. Und das betrifft nicht nur den Streit um die Zulassung iranischer Verlage zur Frankfurter Buchmesse, nicht nur die taktischen Manöver zwecks Wiederbelebung der politisch und wirtschaftlich nutzbringenden Beziehungen zum Iran, es betrifft auch die intellektuelle Auseinandersetzung.

Zwar herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Todesdrohung gegen Rushdie bedauerlich oder gar kriminell ist, nicht jedoch darüber, ob der Autor mit der Publikation der „Satanischen Verse“ bloß ein Grundrecht wahrgenommen hat oder ob ihn nun die unverhältnismäßige, aber nicht ganz unverständliche Strafe dafür ereilt, dass er schlafende Hunde mit Fußtritten geweckt hat.

Der englische Journalist Richard Webster jedenfalls wirbt um Verständnis für „die aufrichtige Empörung vieler gemäßigter Muslime, die sich gekränkt fühlen durch die Art und Weise, wie Rushdies Roman ihren Glauben verhöhnte und die heilige Gestalt des Propheten Mohammed in einer ebenso obszönen wie verächtlichen Sprache beleidigte“. Webster wirft Rushdie mangelnde Sensibilität vor, und er fügt hinzu, daran sei nicht nur Rushdie schuld, sondern wir alle, weil wir eine Kultur hervorgebracht hätten, die, in ihrem Bestreben, sich von Tabus zu befreien, die zerstörerische Gewalt von Tabuverletzungen nicht begriffen habe. Richard Webster ist zwar der Ansicht, die Fatwa gegen Rushdie sei „grausam, mörderisch und tyrannisch“, zugleich aber findet er, der Roman wäre besser nicht erschienen, und wenn schon, dann hätte der Autor die strittigen Stellen streichen sollen und in jedem Fall einer Taschenbuchausgabe nicht zustimmen dürfen.

Diese gewissermaßen sozialpflegerische Sicht der Dinge kommt einer verbreiteten politischen Strategie entgegen, die nichts anderes als Appeasement bedeutet. Den westlichen Regierungen kann nichts daran liegen, lukrative Beziehungen zu islamischen Ländern wegen eines intellektuellen Bastards aufs Spiel zu setzen.

Im vergangenen Herbst fand, finanziert vom Thyssen-Konzern, ein iranisches Kulturfestival in Dortmund statt, und das Auswärtige Amt beabsichtigt, im nächsten Jahr eine deutsche Kulturwoche in Teheran zu veranstalten. Sie wird weder stattfinden können noch dürfen, wenn dort die Rede davon sein soll, dass deutsche Übersetzer von Rushdies Büchern den Schutz der Anonymität suchen müssen.

Für derlei Politik ist Rushdie ein Störfaktor. Insofern hängt die Kanzel, von der herab Webster uns ins Gewissen redet, völlig in der Luft. Hat denn irgendeine Regierung dramatische Schritte unternommen, um das Leben ihrer bedrohten Übersetzer oder Verleger gegen den Iran zu verteidigen? Ist denn, nach dem nahezu tödlichen Überfall auf den italienischen Übersetzer der „Satanischen Verse“ eine EG-Außenministerkonferenz tätig geworden? Wo also wäre die „absolutistische“ Verteidigung der Meinungsfreiheit, die Webster in den westlichen Reaktionen auf Rushdies Fall erblickt? Es gibt sie nicht. Die Politik spricht mit gespaltener Zunge, und den Verteidigern Rushdies stehen ebenso viele gegenüber, die für den multikulturellen Kompromiss plädieren.

Deshalb ist der Verriss, den Susanne Mayer (ZEIT Nr. 17, 1992) über Websters Buch geschrieben hat, einleuchtend. Webster hat sich mit einer Entgegnung an die Redaktion gewandt und erklärt, er fühle „die tiefe und leidenschaftliche Verpflichtung“, sich für eine vielschichtige öffentliche Diskussion einzusetzen, die auch das Empfinden der anderen Seite respektiere. Diese Diskussion werde jedoch durch eine derart „unbeherrschte und dogmatische Rezension“ verhindert.

Websters Empörung ist insofern verständlich, als Autoren Verrisse ihrer Bücher selten als gerecht empfinden, aber er sollte bedenken, dass die Diskussion, die er sich wünscht, dadurch erschwert wird, dass der wichtigste Diskussionsteilnehmer derzeit verhindert ist. Die Situation gemahnt an einen Banküberfall mit Geiselnahme, während dem ein hinzugeeilter Seelsorger darum bittet, es möge die prekäre finanzielle Situation der Geiselnehmer bedacht werden. Da lacht der Kommissar.

Nein, die Situation für das von Webster geforderte Gespräch ist ausgesprochen ungünstig. Nun könnte es allerdings nützlich sein, die näheren Umstände für einen Augenblick gedanklich zu suspendieren. Denn es bedarf keiner besonderen Hellsicht, um festzustellen, dass der Fall Rushdie ebenso außerordentlich wie exemplarisch ist. Noch sind wir beschäftigt mit der kräftezehrenden Debatte über die nunmehr zwei deutschen Vergangenheiten, noch ist die intellektuelle Kapazität mit der Konkursabwicklung in Sachen Sozialismus ausgelastet, noch werden Nachhutgefechte geführt und hoffentlich verfrühte Siegesmeldungen vom Ende der Geschichte mit Schaumwein begossen.

Aber längst ist klar, dass der Konflikt, der uns, den Noch-Herrschern dieser Erde, den Konquistadoren der Kultur und des Geldes, bevorsteht, der Konflikt nämlich zwischen Nord und Süd, gewaltiger sein wird als das, was derzeit auf den geistigen Abraumhalden des 19. Jahrhunderts geschieht.

Ausländerhass nicht nur in Deutschland, die Renaissance wütender Nationalismen, das neuerliche Aufflackern offenbar unvergessener Religionskriege: Diese Signale bezeugen den Ausbruch eines für erloschen gehaltenen Vulkans, dessen erster Lavastrom Rushdies Haus in Brand gesetzt hat. Und es ist inzwischen klar, dass der Vulkan durch das Abwerfen markiger Parolen nicht zu stoppen ist. Deshalb lohnt es sich, Websters Plädoyer zu diskutieren, wir sollten die islamische Kultur, ihre religiösen Standards und Empfindlichkeiten, ernst nehmen. Zu seinen Gunsten muss man hinzufügen, dass er die Bücherverbrennung in Bradford 1989 erlebt hat, als empörte Moslems die „Satanischen Verse“ in Flammen aufgehen ließen (es war wohl nur der Buchumschlag) – Ausbruch eines schon lange schwelenden Konfliktes.

Websters Thesen sind in Kürze die folgenden:
1. Es geht nicht um den Konflikt zwischen einer rückständigen Religion und einer aufgeklärten Gesellschaft. In der Rushdie-Affäre erneuert sich der alte Krieg zwischen Christentum und Islam.
2. Das Christentum war immer eine blasphemische Religion, bestrebt, die Konkurrenz-Religionen Judentum und Islam propagandistisch abzuwerten. Daher rühren Antisemitismus und Anti-Islamismus.
3. Der Kampf um die Meinungsfreiheit in Sachen Rushdie ist nur die säkularisierte Variante des alten Bedürfnisses, die feindliche Religion schmähen zu dürfen.
4. Die Art und Weise, wie wir die Meinungsfreiheit absolut setzen, lässt den Schluss zu, dass es sich um eine Ersatzreligion handelt. Meinungsfreiheit ist aber nicht absolut, sondern abhängig von ihrem Inhalt. Blasphemische und obszöne Äußerungen können gefährlich sein, und sie sollten im kritischen Fall unterbleiben.
5. Die Verteidiger Rushdies sollten sich hüten, jenem neuen Anti-Islamismus zuzuarbeiten, der zu einer ähnlichen Katastrophe führen könnte, wie es der Holocaust im Fall des Antisemitismus war.

Richard Webster ist kein besonders scharfsinniger Denker, und sein Buch zeichnet sich eher durch einen deklamatorischen Ton als durch Analyse aus. Was ihn jedoch interessant macht, ist die Tatsache, dass er jenem Kulturrelativismus offensiv Ausdruck verleiht, der ein typisches Merkmal der liberalen Gesellschaft ist.

Der englische Dramatiker Arnold Wesker hat zur Verteidigung Rushdies gesagt: „Die Aufklärung hat mich geprägt. Männer und Frauen sind gestorben, damit ich die freie Luft der Vernunft atmen kann“, und er hat deshalb das „Recht auf Blasphemie“ verteidigt. Diese Entschiedenheit geht Richard Webster und all jenen, die er vertritt, völlig ab. Der Kulturrelativismus hält die Prinzipien der anderen Kultur für grundsätzlich gleichrangig. Gewalt würde er nicht billigen (und also auch nicht die Fatwa), wohl aber schwebt ihm eine Balance der Interessen vor. Im Konflikt müssen beide Seiten zu Kompromissen imstande sein. In Rushdies Fall hieße das: Streichung der für blasphemisch gehaltenen Texte als Geste der Versöhnung.

Wer dies für unzumutbar hält und für einen Angriff auf die Meinungsfreiheit, der sollte sich für einen Augenblick an Lessings Ringparabel erinnern. Im Drama „Nathan der Weise“ fragt der Sultan Saladin den Juden Nathan: „Von diesen drei Religionen (gemeint sind Judentum, Islam und Christentum) kann doch eine nur die wahre sein. – Ein Mann, wie du, bleibt da nicht stehen, wo der Zufall der Geburt ihn hingeworfen: oder wenn er bleibt, bleibt er aus Einsicht, Gründen, Wahl des Bessern. Wohlan! so teile deine Einsicht mir dann mit. Lass mich die Gründe hören…“

Nathan erzählt ihm die Geschichte von dem Mann, „der einen Ring von unschätzbarem Wert aus lieber Hand besaß“. Der Ring „hatte die geheime Kraft, vor Gott und Menschen angenehm zu machen, wer in dieser Zuversicht ihn trug“. Der Mann vererbte den Ring seinem liebsten Sohn, und der tat es wieder, bis der Ring auf einen Vater von drei Söhnen kam, die ihm alle gleich lieb waren. So ließ er zwei weitere Ringe anfertigen, die vom ersten nicht zu unterscheiden waren. Fazit: Die drei Religionen haben das gleiche Recht.

Saladin wendet ein, die Religionen seien doch sehr unterschiedlich. Nathan: „Nur von Seiten ihrer Gründe nicht. – Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte? Und Geschichte muss doch wohl allein auf Treu und Glauben angenommen werden? Wie kann ich meinen Vätern weniger als du den deinen glauben? Oder umgekehrt. – Kann ich von dir verlangen, dass du deine Vorfahren Lügen strafst, um meinen nicht zu widersprechen?“

Dürfen wir von den Moslems verlangen, daß sie ihre Vorfahren Lügen strafen, um unseren Prinzipien nicht zu widersprechen? (Immer noch angenommen, das Todesurteil gegen Rushdie existiere nicht, und wir könnten frei diskutieren.) Ist es wirklich so, wie Webster glaubt, „dass wir, wenn wir den Dolch unserer intellektuellen Überlegenheit in anderer Leute Glauben stoßen, eine intellektuelle Grausamkeit verüben, die zugleich eine Form von echter Grausamkeit ist“?

Lessings Ringparabel (geschrieben 1778) ist der Beginn jener Aufklärung, deren freie Luft nicht nur Arnold Wesker gerne atmet. Natürlich hat Lessing nicht an Bücherverbrennungen und religiöse Fanatismen gedacht, die in der Tat antiaufklärerisch sind. Aber er hat doch wohl sagen wollen, dass keine Religion mit ihrem Wahrheitsanspruch andere majorisieren darf. Es ist richtig, dass der islamische Fundamentalismus einen terroristischen Wahrheitsanspruch erhebt. Aber auch wir, mit unserem Beharren auf unveräußerlichen Grundrechten, erheben einen Wahrheitsanspruch, der den Moslems im Fall Rushdie nicht weniger terroristisch erscheint.

Lessings Toleranzedikt führt geradewegs zum Begriff der multikulturellen Gesellschaft: Grundsätzlich sind alle Religionen und Rassen, alle Mentalitäten und Traditionen gleichberechtigt. Der Vorbehalt, es müssten sich die Immigranten unseren Gesetzen beugen, löst den kulturellen Konflikt nicht. Was, wenn sie es nicht tun? In ihrem religiösen Empfinden verletzte Menschen lassen sich nicht durch polizeiliche Maßnahmen befrieden.

Zu erinnern ist an den Streit um Martin Scorseses Film „Die letzte Versuchung Christi“, als aufgebrachte Katholiken Kinos anzündeten und Kinobesitzer aus Furcht vor Vergeltung sich weigerten, den Film zu zeigen. Das war im Herbst 1988, ein halbes Jahr vor dem Todesurteil gegen Rushdie. Das Beispiel zeigt die Unhaltbarkeit der These, die Verteidiger Rushdies stünden in der Tradition christlicher Aggression gegen den Islam. Der Vatikan hat sich im Fall Rushdie bedeckt gehalten und die Fatwa nicht verurteilt. Katholische Bischöfe haben Rushdie kritisiert. Es gibt ein gemeinsames Interesse der Religionen, Tabuverletzungen zu ahnden. Für das Recht auf freie Meinungsäußerung sind, wie Arnold Wesker richtig sagt, Männer und Frauen gestorben, und dieses Recht ist nicht ein für allemal erkämpft. Es ist immerzu bedroht, und jetzt durch jene Moslems, die bereit sind, für ihren Propheten zu sterben und zu morden.

Nathans Weisheit hilft uns offenbar nicht weiter. Sie war plausibel in einer Zeit, da die Kulturen und Religionen getrennt voneinander lebten. Moderne Verkehrsmittel und Kommunikationstechniken erlauben eine Beschleunigung des kulturellen Austauschs, die zugleich eine ungeahnte Verschärfung der Konfrontationen ist. Ein Roman, der heute geschrieben wird, kann morgen in der ganzen Welt gelesen werden; und eine Sippe asiatischer Moslems, die gestern noch in der Steppe nomadisierte, kann sich heute schon in einem Container-Dorf am Rand von Oberammergau wiederfinden.

Was soll man davon halten, dass eine türkische Mutter, in Deutschland lebend, ihrer Tochter verbietet, am gemeinsamen Turnunterricht teilzunehmen? Ein deutsches Gericht hat kürzlich der Mutter und ihren religiösen Überzeugungen recht gegeben. Kein wichtiger Fall, vielleicht. Klitoris-Beschneidungen in Afrika zu verurteilen mag eine Form des kulturellen Imperialismus sein. Was aber, wenn diese Praxis bei uns stattfindet? Gehört auch das zur Freiheit der Religionsausübung?

Um das Dilemma deutlich zu machen: Ein Mann wie Edmund Stoiber (CSU), der vor einer „Umvolkung“ und einer „durchrassten Gesellschaft“ warnt, wäre in seiner Verurteilung des islamischen Vorgehens im Fall Rushdie viel glaubhafter als wir, die wir die multikulturelle Gesellschaft loben und dabei vergessen, daß es nicht um Pizza und Moussaka geht, sondern um Schador und Fatwa. Die Frage ist, von welchem Augenblick an wir unsere kulturelle Identität als gefährdet betrachten müssen. Ein vom Turnunterricht ausgeschlossenes Mädchen ist offenbar noch keine Gefährdung. Der Mordaufruf gegen deutsche Verleger und Übersetzer ist nicht eine Gefährdung, sondern eine Verletzung unserer Identität.

Es kann sein, dass wir Lessings Parabel nicht richtig gedeutet haben. Nathan liefert nur eine der möglichen Interpretationen. Wenn die drei Religionen der Wahrheit gleich nahe sind, dann sind sie auch gleich weit von ihr entfernt. Was aber wäre die Wahrheit? Nichts anderes als die Aufklärung, die Lessing mit seinem Stück befördert hat: der Glaube an die Vernunft und an die Gültigkeit der Menschenrechte. Lessings Erzählung der Ringparabel ist die Parabel: Der Diskurs, den er führt, besiegelt ihre Gültigkeit, und ihre Gültigkeit ist Folge des Diskurses. Er ist die „Wahrheit“, die über den drei Ringen steht.

Wenn wir aber die Menschenrechte als oberstes Gebot akzeptieren, dann müssen wir einen Kulturrelativismus ablehnen, der die Vielheit der Überzeugungen unterschiedslos gelten lässt und uns Kompromisse andient, die keine sind. Entweder gibt es Meinungsfreiheit oder nicht. Wer von Rushdie verlangt, er möge die strittigen Passagen entfernen oder auf die Taschenbuchausgabe verzichten, hat die Meinungsfreiheit schon aufgegeben.

Der Irrtum des Kulturrelativismus besteht darin, dieses Prinzip als Glaubensangelegenheit zu betrachten und anderen Glaubensdingen gleichzusetzen. Wer für die Menschenrechte eintritt, führt nicht einen Heiligen Krieg. Den führen andere. Jede Religionspraxis, ob katholisch oder muslimisch, ist diesen Freiheitsgarantien nachgeordnet. Hexenprozesse sind ebenso wenig erlaubt wie die Fatwa, die auch der islamischen Jurisdiktion nicht entspricht. Ein Todesurteil kann nur gegen gläubige Moslems verhängt werden.


Im übrigen sind die monotheistischen Religionen keine unveränderlichen Gebilde. Die Geschichte, auf der sie gründen, kennt Verfinsterung ebenso wie Aufklärung. Der Islam, der jetzt gegen Rushdie kämpft, ist der finstere Teil einer großen Tradition, die wir kaum kennen. Das jüngste Heft der Zeitschrift „Sprache im technischen Zeitalter“ dokumentiert ein Gespräch über die drei monotheistischen Religionen, in dem Muhammed Salim Abdullah (der in Deutschland lebende Vertreter des Islamischen Weltkongresses bei den Vereinten Nationen) darauf hinweist, dass der Islam die Aufklärung nicht vor sich habe, sondern hinter sich und sie wiederentdecken müsse. Die „mutazila“ im 7. und 8. Jahrhundert war der Versuch, Vernunft und Glauben zu versöhnen. Noch heute seien die Mutaziliten eine bedeutende intellektuelle Gruppe unter den Moslems.


Der italienische Schriftsteller Pietro Citati hat kürzlich bemerkt, wir seien heute vom Verstehen des Islam weiter entfernt als Goethe bei der Niederschrift des „West-östlichen Divans“. Es scheint jedoch, als wäre unsere Unwissenheit nicht größer als die Unwissenheit der Moslems, die gegen die „Satanischen Verse“ protestieren.


Ist es Hochmut oder unser gutes Recht, von den Immigranten zu verlangen, ein paar einfache Wahrheiten über das Wesen der Kunst zur Kenntnis zu nehmen? Ihr Zorn rührt eben daher, dass Rushdie den versteinerten Dogmatismus einer bestimmten islamischen Tradition attackiert. Eine ähnliche christliche Tradition begegnet uns immer wieder, nicht nur im Fall Scorsese. Die derzeit allgegenwärtige Fortschrittskritik darf nicht die Bedingungen des Kritik vergessen: die Informations- und Redefreiheit, also das Erbe der Aufklärung. Das müssen wir wohl als Fortschritt betrachten, verglichen mit den präintellektuellen, arkanpolitischen religiösen Gesellschaften. Oder etwa nicht?

Der didaktische Nebeneffekt der Rushdie-Affäre besteht darin, den Universalismus-Streit aktualisiert zu haben. Die Frage, ob die Ideen der europäischen Aufklärung kulturell bedingt sind und folglich relativ, oder ob sie über ihren Ursprung hinaus universelle Geltung beanspruchen dürfen, hat (zum Beispiel) die Ethnologie gespalten. Der Versuch, die fremde Kultur aus ihren eigenen Bedingungen zu verstehen und zu akzeptieren, stand immer im Widerstreit zu den Postulaten der Aufklärung. Dieser philosophische Konflikt ist nunmehr alltäglich und anschaulich geworden, weil die fremden Kulturen nicht mehr weit weg sind, nicht mehr Gegenstand bloß ethnologischer Forschung und imperialistischer Beutezüge. Sie sind mitten unter uns, in Gestalt von Menschen, deren Habitus bedrohlich wirkt, weil wir ihn nicht verstehen.

Der Kulturrelativismus ist ein verlockender Weg. Wer wäre nicht für Austausch und Vielfalt? „,Die Satanischen Verse’ feiern die Bastardisierung, die Unreinheit, die Mischung, die Verwandlung. Das Buch erfreut sich am Mischen der Rassen und fürchtet den Absolutismus des Reinen.“ Das hat Rushdie 1990 gesagt. Aber der Austausch funktioniert nur unter gewissen Bedingungen, die Vielfalt braucht Regeln. In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen. Wohl wahr, aber wer bestimmt die Hausordnung?

Der Kulturrelativismus ist ein gefährlicher Weg, weil er den des geringsten Widerstandes geht. Er zeigt, wie Aufklärung an ihren eigenen Prinzipien zugrunde gehen kann, wie die Toleranz zur Aufhebung von Toleranz führt. Das Gerede von der multikulturellen Gesellschaft ist so lange wohlfeil, als es die Konflikterduldung an die unteren Ränge des Publikums delegiert. Sie wird aber sofort schwieriger – dies zeigt der Fall Rushdie –, wenn wir selber davon betroffen sind. „Multikulturell“ darf nicht heißen, dass gleiches Recht nicht mehr für alle gilt. Für Rushdie gilt es seit dem 14. Februar 1989 nicht mehr.

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