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Eckhard Nordhofen

How to do things without words.
Das Missverständnis der Formlosigkeit

Einleitung zum Frankfurter Streitgespräch über die Wiederzulassung der lateinischen Messe

Zweiundsiebzig Stunden nach der Veröffentlichung des Motu proprio Summorum Pontificium, mit dem Benedikt XVI. die alte Messe rehabilitierte, waren im neuen „Haus am Dom“ zu Frankfurt am Main fünf Herren beisammen, um vor einem summend erregten Publikum, das der Saal kaum fassen konnte, eine bemerkenswerte Debatte zu führen: Albert Gerhards, Berater der Bischofskonferenz, führender Liturgiewissenschaftler der Bonner Katholisch theologischen Fakultät, Arnold Angenendt, furios-temperamentvoller Emeritus, Kirchen- und Liturgiehistoriker aus Münster, Daniel Deckers als nicht ganz unparteiischer Moderator, Robert Spaemann, eine filigrane Erscheinung, als Philosoph ein Kopf der Republik, bekenntnisstarker Katholik, außerhalb des kirchlichen juste Milieus womöglich höher geschätzt als innerhalb, und schließlich der mit dem Georg Büchner-Preis 2007 frisch ausgezeichnete Frankfurter Schriftsteller Martin Mosebach.

Keiner von ihnen war ein neutraler Beobachter. Alle waren sie persönlich verwickelt und hielten das auch nicht geheim.

Ein Buch hatte für umspringenden Wind gesorgt.

Was für eine Wirkungsgeschichte! Martin Mosebachs Häresie der Formlosigkeit wird einst im imaginären Museum der Bücherschicksale einen sehr besonderen Platz einnehmen. Das Buch verherrlicht das älteste Institut der ältesten fortbestehenden Institution der Welt, die Messe der katholischen Kirche. In der Klage über ihre Deformation verklärt es ihre alte Form. Die Klage war erfolgreich. „How to do Things with words“ - das Buch war ein Eingriff.

Auch ein ungläubiger Kulturhistoriker steht vor dem singulären Phänomen, dass da eine Traditionslinie ununterbrochen sich über nahezu 2000 Jahre durchziehen lässt. „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ (Lk. 22,19), so hatte der Auftrag Jesu an die Zwölf bei jenem „letzten Abendmahl“ gelautet, das seinerseits ein Gedächtnismahl war. Jede jüdische Hausgemeinschaft beging und begeht bis heute dieses Ritual am Pessach-Fest zur Erinnerung an die Befreiung der Kinder Israels aus dem Sklavenhaus Ägypten.

Wer gedenkt, kämpft gegen die Zeit. Ihm kommt es auf Bewahrung an.

Aber könnte es nicht sein, dass diese längste aller Gedächtnisspuren nur deswegen gezogen werden konnte, weil die Christenheit „Tancredis Rezept“ befolgte? In Tomasi di Lampedusas großem Roman  Der Leopard ist es Tancredi, der tatkräftig wendige Neffe des Titelhelden, der die sichere Witterung für das Aggiornamento hatte, das in der nationalistischen Luft des 19. Jahrhunderts lag. Das Aggiornamento bestand damals im Risorgimento, Garibaldis Einigung Italiens. Tancredi bringt seine Erkenntnis mit dem berühmten Satz auf den Punkt:  „Wenn wir wollen, dass alles bleibt wie es ist, dann ist nötig, dass alles sich verändert.“

Den Wandel wird kein Historiker bestaunen, ihn zu registrieren, vielleicht zu erklären, ist sein Geschäft. Der Wandel ist das Normale. „Keinem bleibt seine Gestalt!“ Das wusste nicht erst Ovid, der ihn in seinen Metamorphosen durch poetische Verklärung erträglich machte. Alle wissen es schon immer. Der Wandel ist wie ein Grundrauschen, der leise, manchmal laute Lärm, mit dem die Zeit verstreicht. Je mehr er in der Moderne anschwillt, desto kostbarer wird der Gedanke, es könne etwas geben, das ihm nicht unterworfen ist.

Staunenswert dagegen wäre das Unwandelbare, die Persistenz, die nicht von den Taten der Zeit besiegt werden kann, die garantierte Kontinuität. Stille. Ausnahme zwischen dem Bocksgesang. Im Falle der Katholischen Kirche ist sie ein Glaubensartikel. Von seiner Kirche glaubt der gläubige Katholik, dass sie zwar zur Pilgerschaft durch die Zeiten bestimmt ist, per omnia saecula saeculorum, dass sie in ihrem tiefsten Wesen aber über ihnen steht. Die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen.

Wie kann die Substanz, die bei allem Wandel die Identität dieser Kirche ausmacht, zum Ausdruck gebracht werden? Im Katholizismus bleibt es nicht beim doktrinalen Wort. Sobald sie in die Nähe des Zentrums geraten, werden Gedanken inkarniert, das heißt, sie erhalten einen Leib, nehmen  Gestalt und Formen an, die über den diskursiven Verbalismus hinausgehen.

Betrachten wir etwa die Kontinuität. Zunächst ist sie ein Gedanke, dann ein Begriff, der sich in Lehrsätzen formulieren lässt, ihre verbale Präsenz wäre insoweit gesichert. Wie aber kann Kontinuität sinnfällig werden, so dass sie körperlich erlebbar wird? Die inkarnatorische Antwort heißt: Sukzession. In einer ununterbrochenen leitfähigen Stromverbindung von Handauflegungen und Weihen werden die Bischöfe zu Nachfolgern der Apostel gemacht. Wieder verlängert sich die Gedächtnisspur zurück ins alte Israel: Zwölf hatten es sein müssen, denn Israel, alias Jakob, hatte zwölf Söhne, die zu Stammvätern des Bundesvolks wurden. Von den Bischöfen empfangen wiederum die Priester ihre Weihen. Sie sind die einzigen, die im Auftrag des Bischofs „in persona Christi“ sein Opfer feiern, den Tod am Kreuz und seine Auferstehung. Sie setzen ihre Individualität beiseite und machen sich zur Figurine der zentralen Figur, des Christus, der nicht tot ist, sondern der Herr der Zeit.

Der Glutkern der Messe ist nicht von dieser Welt, in ihm kommt die Zeitstruktur der Kirche lesbar und erlebbar zum Vorschein. Er unterstellt – nein, er bewirkt die Suspension der Zeit.

Für Immanuel Kant ist die Zeit ein Apriori, „reine Anschauungsform“, eine Koordinate unserer Realität, die nicht hintergangen werden kann, jedenfalls nicht in der Anschauung, sei sie nun aktuell oder imaginiert. Ob wir wollen oder nicht, sie begleitet alle unsere Vorstellungen. Der menschliche Verstand aber hat die einzigartige Kraft, sie zu negieren. Er kann Zeit wegdenken oder auch relativieren. Diese Fähigkeit zur Negation wird uns noch beschäftigen. Sie ist der göttliche Abstandhalter, zu dem uns der  biblische Monotheismus verholfen hat. Seit Einstein wissen auch die Physiker, dass die Zeit tatsächlich weit über den Käfig unserer  Vorstellungskraft hinausragt. Dennoch kann sich ihr kein Mensch im Ernst entkommen.

Dass diese Abwesenheit der alles vernichtenden pfeilgerichteten Zeit nicht nur denkbar, sondern sogar eine umgreifende Realität sein soll, diese Transgression installiert jeder Priester in jeder Messe, wenn er die Wandlungsworte spricht: „Hoc est enim corpus meum“. Für den Ungläubigen ist dies Hocuspocus, für den Gläubigen, der Grund seiner Hoffnung auf Ewigkeit, die Befreiung von tödlicher Endlichkeit.

Die Messe erzeugt im eucharistischen Hochgebet eine Gegenwärtigkeit, die der Zeit enthoben ist. Sie setzt das ganze Heilsgeschehen, das mit der Person Christi verbunden ist, in ein finales Präsens, mitten in der Strömung des Gewöhnlichen. So ist die Messe die Installation schlechthin, mit der die mögliche Abwesenheit der Zeit, besser die Auferstehung aus der Zeit ausgerufen wird. Muss daher ihre Form ebenfalls überzeitlich sein? Für diese Sicht plädiert jedenfalls Martin Mosebach in seinem vorüberlegten Statement zu Beginn des Frankfurter Gesprächs.

Viele Indizien sprechen dafür, dass sein Buch Die Häresie der Formlosigkeit der Auslöser für jenes „Motu proprio“ war, den Erlass, mit dem Benedikt XVI. den Versuch macht, den „Geist der Liturgie“ in seiner Kirche wieder zu beleben. Ihn hatte Joseph Ratzinger zuletzt in einer gleichnamigen Publikation im Jahr 2000  beschworen. Vor dem Entschluss des Papstes, mit der Aufwertung der alten Messe die Aufmerksamkeit auf die Liturgie überhaupt zu lenken, stand der Erfolg des Buches von Martin Mosebach. Wann hätte je ein Buch eine solche Rolle gespielt?  Benedikt XVI. wird registriert haben, dass ein Titel, der in einem kaum bekannten Verlag (Karolinger) erschienen war, ohne Werbekampagne einen ungewöhnlichen Verkaufserfolg hatte. Mit einem neuen Vorwort versehen, ist Die Häresie der Formlosigkeit inzwischen bei der 7. Auflage angelangt. Robert Spaemann bemerkt: „Dass wir in Deutschland das Thema auf der Tagesordnung haben, ist im Wesentlichen Mosebachs Verdienst.“

Dass einer der ersten Schriftsteller seiner Zeit sich um die Messe kümmert, ist keine Marotte. Der Kritiker Edo Reents riskiert in seinem Nachruf auf Walter Kempowski (FAZ v. 06.10.07) eine Antwort auf die Frage, was einen Menschen zum Schriftsteller mache. Für ihn ist Literatur die Erinnerungsleistung, „die jeder Verzeitlichung, der alles Menschliche unterworfen ist, entgegenwirken soll.“ Demnach wären der Büchnerpreisträger und literarische Zeitanwalt Mosebach und Martin Mosebach als Zeitanwalt in seinem Einsatz für die Form der Messe tatsächlich ein und derselbe. Durch sein Werk den Rahmen der Zeit zu sprengen, wäre für einen Künstler in seinen Augen ein „durch Anmaßung und Größenwahn bedrohtes Vorhaben“. In Bezug auf die Messe ist es sein Credo.

Natürlich provoziert ein solches  Plädoyer Gegnerschaften. Die binnenkirchliche Szene ist in ihren Gesinnungsbruder- und schwesternschaften oft noch binär codiert und teilt die Welt in zwei Lager ein, das der Progressiv-„Liberalen“ und das der konservativen Befürworter einer „Rolle rückwärts“. Letzteren wird nachgesagt, sie seien von nostalgischen Gefühlen ergriffen, mit denen sie vorkonziliare Verhältnisse herbeiwünschten. Auch der Vorwurf, es handele sich um  bloßen Ästhetizismus, den weltflüchtigen Schönheitsdurst einer intellektuellen Elite, ist oft zu hören. Für die bekennenden „Liberalen“ ist Mosebachs Buch ein kirchenpolitisches Unglück.

Andere sind hin und hergerissen. Viele seiner in Leser, die in ihrer Kirche engagiert sind, stimmen zu und lehnen ab. Sie kommen ins Grübeln und teilen immerhin die Analyse, mit der Mosebach die animierte Encounter-Welt der Familiengottesdienste und die banalisierende Vernichtung des Rituals beschreibt. Seine Konsequenz, die Rückkehr zur traditionellen vorkonziliaren Form der Messe, ist für sie unrealistisch oder auch gar nicht wünschenswert. Soll ein Kirchenvolk, das alltags in einem Strom von grellen Daten und Bildern schwimmt, in einer herausgesprengten sonntäglichen Stunde nicht auch den Anschluss an die „Sorgen dieser Welt“ finden können? Wo beginnt die Weltflucht? Und wo schafft sich der Christ sein Widerlager für den Weltwiderstand, den er in sich aufladen muss, um in der Spur Jesu zu gehen?

Hin und hergerissen waren auch die Professoren und Liturgiewissenschaftler Arnold Angenendt und Albert Gerhards, die Partner auf dem Frankfurter Podium. Sie können mit Recht darauf verweisen, dass Mosebachs Beschreibung der alten Messe ein Idealbild zeichnet, von dem die real existierende vorkonziliare Praxis sich deutlich unterschied. Der Sensus für die Liturgie sei lange vor dem Konzil verschwunden gewesen. Angenendt verweist auf den Abschiedsbrief Romano Guardinis, der als eine Art Kirchenvater der liturgischen Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten kann und bringt diese Diagnose auf den Punkt: „Das ist die Krankheit!“, und Gerhards verweist auf das Erscheinungsjahr jenes Briefs: 1964.

Die zweite Hälfte der sechziger Jahre erscheint dem diagnostischen Blick aus dem Abstand fast eines halben Jahrhunderts gekennzeichnet von einer allgemeinen Entrümpelungs- und Entsorgungsmentalität. Wie in einem lustvollen Satyrspiel wurde an den Universitäten der „Muff von tausend Jahren unter den Talaren“ ausgelüftet. Simse, Friese und Ornamente wurden an den historischen Hausfassaden, die gerade erst den Bombenkrieg überstanden hatten, abgeschlagen, um sie anschließend zu kacheln.

Schon seit Anfang des Jahrhunderts hatte alle Form, die nach dem Slogan des Bauhauses nicht Funktion war, unter dem Generalverdacht gestanden, hohl zu sein, Betrug wie ein ungedeckter Scheck.

Der Klimawandel hatte sich lange angekündigt. Adolf Loos hatte seine Kampfschrift Ornament und Verbrechen schon 1908 verfasst. Der Futurismus bejubelt in den Zwanzigern enthusiastisch die Geschwindigkeit. Die NS-Ideologie brüllt: „Mit uns zieht die neue Zeit“. Der Stalinismus geht für Beschleunigung und Fortschritt über Leichen.

Wie wenn eine tiefe Grundwelle, die sich dem Festland nähert und steil wird, hatte sich in den Sechzigern das Tempo verschärft. Wer hatte das bewirkt? War es Herbert Marcuse, Ernst Bloch oder die “Frankfurter Schule“? War es  der Vietnamkrieg, Woodstock oder Angela Davis,  Rudi Dutschke oder Daniel Cohn-Bendit, der Algerienkrieg? Waren es alle und alles ein bisschen? Jedenfalls keiner allein. Die kulturrevolutionäre Verabschiedung aller Formen war die Folge einer Grundstimmung. Sie nahm selbst Form und Figur an, fand ihre stereotypen Choreographien, missverstand sich selbst allerdings als formlos. Statt Schlips und Kragen trug der Student nun Uniform, den olivgrün-lässigen Parka  der US-Armee – ausgerechnet. Die anarchische Idee der Formlosigkeit ist im strengen Sinn utopisch. Sie hat keinen möglichen Ort in der menschlichen Gesellschaft. Ou topos – kein Ort!

Ein Reich der Freiheit von aller Form errichten zu wollen, gleicht dem Versuch, der Gravitation zu entkommen. Wenn Formlosigkeit eine Häresie gewesen ist, so war sie zu allererst ein Missverständnis. Jedenfalls weit mehr als ein Problem der katholischen Kirche. Wenn die Mentalität dieser Jahre eines fast revolutionären Beschleunigungsschubs unter ein Vorzeichen gesetzt werden soll, dann wäre die schlichte Entgegensetzung: „alt = schlecht  –  neu = gut“ ein Kandidat. Schlechte Zeiten jedenfalls fürs Überzeitliche und seine Formen.

Der Zeitzeuge Angenendt verweist auf das Klima jener Jahre. Martin Luther King und Kennedy entsprachen auch äußerlich dem Typus des Fortschrittshelden. Aber Johannes XXIII.? Die Beliebtheit des dicken, humorvollen Papstes hängt vielleicht auch damit zusammen, dass er gerade nicht dem Savonarola-Typ des leidenschaftlichen Kirchenreformators entsprach und doch sein „Aggiornamento“ erfand, die neue Vokabel, die dem Konzil die Richtung wies.

Was die liturgischen Formen betrifft, so steht für Albert Gerhards außer Frage, „dass manches über Bord gegangen ist, was wir zu recht heute bedauern. Das lag im Zug der damaligen Zeit.“ Aber er besteht mit gewissem Recht darauf, dass die späteren liturgischen Anordnungen Pauls VI. durchaus im Geist des Konzils getroffen wurden, während Mosebach und Spaemann ebenso mit Recht darauf hinweisen, dass viele dieser Reformen sich nicht auf Konzilsbeschlüsse berufen können.

Die lateinische Kirchensprache wurde offiziell nie abgeschafft, im Gegenteil. Daniel Deckers, der Moderator des Frankfurter Gesprächs, zitiert einen Konzilisbeschluss vom 4.12.1963: “Der Gebrauch der lateinischen Sprache soll in den lateinischen Riten erhalten bleiben, soweit nicht Sonderrecht entgegensteht.“

Nachdem es den regionalen Bischofskonferenzen freigestellt worden war, die jeweilige Landessprache für die Feier der Liturgie zuzulassen, wurde von Rom aus noch einmal der ohnmächtige Versuch gemacht, das Latein als Kirchen- und Kultsprache, vielleicht für besondere Gelegenheiten festzuhalten. Er blieb ohne nennenswerte Folgen. Der formfeindliche Grundzug in der Mentalität der 60er Jahre sorgte für einen Verselbständigungseffekt in der Liturgiereform.

Im Frankfurter Gespräch trat der Zusammenhang von Form und Sakralität zutage. Alle Teilnehmer waren sich in der Ablehnung  eines freihändig lockeren Stils einig, der die Liturgie zu einer Angelegenheit für Animateure und Designer machte. Arnold Angenendt ist allerdings hin und hergerissen und unschlüssig. Ratzingers Ausdruck „Bastelei“ findet er einerseits bedenklich, will sich andererseits aber auch die „Haare ausraufen bei dem, was in den Jugendgottesdiensten geschieht“, hat dann doch wieder Verständnis für die „ganzen lieben Mitbrüder, die erleben jedes Jahr ein zwei Prozent weniger Besucher im Gottesdienst.“ Er will keinen verurteilen. „Weil sie sich bemühen, ja nun, bevor die Kirche ganz leer ist.“

Auch an anderer Stelle taucht die grundlegende Frage auf, ob die Beseitigung einer Semantik der Sakralität, die Ermäßigung liturgischer Anforderungen, überhaupt der Königsweg zum pastoralen Erfolg ist. 

Robert Spaemann berichtet von einem bemerkenswerten Gespräch, das er mit Papst Johannes Paul II. hatte. Dieser verwies auf die gewaltige Glaubenskrise als „unser großes Problem“, das ihm viel wichtiger erschien als liturgische Stilfragen. „Das ist doch zentral!“ Darauf Spaemann: “Heiliger Vater, vielleicht hängen die beiden Dinge zusammen“. Er weiß sich in dieser Überzeugung einig mit dem jetzigen Papst, für den die Liturgie nicht nur ein pastorales Anliegen sei, sondern ein „Schatz der Kirche“.

Es ist bezeichnend, dass in der aktuellen Berichterstattung über die Aufwertung der alten Messe durch Benedikt XVI. sehr oft von der „lateinischen Messe“ die Rede war. Sie war aber gar nicht Thema des Motu proprio. Albert Gerhards verdeutlicht das und bekennt sich als Freund lateinischer Choralämter, die er auch an Werktagen, aber selbstverständlich im neuen Ritus Pauls VI. feiere.

Angenendt verweist dagegen auf die Vorzüge der Muttersprache und sieht in ihrer Verwendung einen Gewinn an Authentizität und Unmittelbarkeit: „Mit der Sprache ist die Christenheit frei und unbefangen umgegangen“.  Gegen die Kultsprache fährt er schweres Geschütz auf. Aus dem „ersten Christengebot“ leitet er so etwas wie ein Grundsatzargument gegen Sakralsprache im Christentum ab: Du sollst „Gott mit deinem ganzen Verstand verstehen“. „Mit allen deinen Gedanken“. So formuliert die Einheitsübersetzung. "En holé te dianóia sou“ heißt es im griechischen Urtext, der allerdings nicht unbedingt insinuiert, Gott sei durch muttersprachliche Ansprache besser zu verstehen. Angenendt: „Es kommt nicht primär auf eine mystische Sprache an, die ich nicht verstehe“, und er verweist auf den Umstand, dass es in allen heidnischen  Weltreligionen Sakralsprache gibt: „Dort muss man ein Gebet nicht verstehen. Das Christentum will es verstanden wissen.“ Wäre die Abwesenheit von Kultsprache gar ein Unterscheidungsmerkmal zwischen der wahren Christenheit und dem Rest der Religionen?

In Opposition gegen einen bürgerlichen Kulturprotestantismus hatten Karl Barth und vor allem Dietrich Bonhoeffer im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts mit einem von allen Erdenresten anthropogener Religiosität gereinigten Christentum der rein lebenspraktischen Entgegensetzung geliebäugelt. Angenendts Verdacht, Sakralität sei ein Indiz für das Heidentum der Weltreligionen und das Christentum lasse Kult und Kultsprache hinter sich, klingt sehr ähnlich.


Robert Spaemann kann dagegen darauf verweisen, dass es zu allen Zeiten der Kirchengeschichte eine Sakralsprache gab. „Das Latein ist als hochentwickelte Sakralsprache eingeführt worden“. Im Gespräch beschreibt er andeutungsweise, wie die Gemeinde, die in seiner Jugendzeit das Choralamt sang und die Kinder, die das Kyrie und das Gloria schmetterten, den Sinn der Gebetsformeln durchaus kannten. Ihm ist es  offenbar um eine eigene Hermeneutik des Heiligen zu tun, um die Möglichkeit, eine hohe Aufladung mit überschießender Bedeutung dadurch zu erzeugen, dass der propositionale Alltagssinn der Wörter durch ein Moment von „Andersheit“ oder Alterität auf Abstand gebracht wird. Wer in der Kultsprache daheim ist, kann sie sprechen, insofern kennt er sie, aber ihre Alterität hindert ihn daran, sie als normales und alltägliches Kommunikationsmittel zu benutzen.

Es gibt neben dem fremdsprachlichen Element noch eine ganze Reihe anderer Alteriätsmarkierungen. So wird das Hochgebet gesungen. Die Psalmen folgen dem poetischen Formalprinzip des Sinnreims, d. h. die zweite der beiden korrespondierenden Zeilen variiert die Aussage der ersten oder sagt dasselbe mit anderen Worten. Gesungene und geformte Sprache ist gesuchte und gewollte Andersheit, die Überbietung einer Kommunikation des bloßen Informationsaustauschs. Eine Absicherung gegen die Verwechselbarkeit Gottes.

Das Rosenkranzgebet wiederholt endlos denselben Evangelientext aus Lk 1,28ff. Alle liturgischen Gesänge sind Markierungen von Alterität, ebenso die Kirchenmusik und die sakrale Architektur aller Zeiten.

Das Schicksal der Lutherbibel liefert ein Lehrstück für eine natürliche Gravitation auch der evangelischen Religionspraxis zur alteritären Sakralsprache. Sie entstand wie von selbst und ohne jeden Synodalbeschluss. Der gewaltige Erfolg Luthers hängt zunächst offensichtlich damit zusammen, dass er in seiner Generation „dem Volk aufs Maul schaute“. Der fortschreitende Sprachwandel hat in der Folge dann den Bibeltext unvermeidlich veralten lassen. Wie wirkt das Lutherdeutsch heute? Gewiss altfränkisch. Aber von ihm geht auch der Glanz der Alterität aus! Dazu kommt Luthers Sprachmacht und Formulierungsstärke, aber auch die Präzision, welche seine Übersetzung fast überall auszeichnet. In seiner Intonation kann sich „Gottes Wort“, hören lassen. So muss für den Frommen, der an das Wort und – sola scriptura – nur an das Wort glaubt, „Heilige Schrift“ klingen.

Nun bringt der protestantische Modernisierungsdrang  verständlicherweise immer neue Versuche hervor, dem Volk auf derzeitige Maul zu schauen. Doch wie flau und bemüht wirken die Versuche, die „Bibel im heutigen Deutsch“ oder in „gerechter Sprache“ an den Mann bzw. die Frau zu bringen. Intuitiv hält da der wackere Lutheraner, sei es aus stilistischen oder aus Gründen der Übersetzungstreue, am Text der alten Lutherbibel fest. Der alteritäre Luthertext ist das Latein der Protestanten.

Wer den theologischen alteritären Kern von Sakralität verstanden hat, wird auf Statusehrlichkeit dringen. Das heißt, es muss die alteritäre Qualität der Kultsprache auch bewusst angestrebt werden. Ihre Legitimität muss verteidigt werden.

Dass sich oft tatsächlich durch den Abstand, den die lebendige Sprachentwicklung wie von selbst erzeugt, durch den Alterungsprozess also, ein alteritärer Effekt einstellt, den alle Religionen sich intensiv zu Nutze machen, kann ins Grübeln bringen. Die christliche Religion hat darüber hinaus einen theologischen Grund, weil sie es mit Gott zu tun hat, der sich offenbart, indem er sich gleichzeitig entzieht. Kommt „Alterität“ vom Alter? Nichts gegen etymologische Späßchen. Aber hier sitzt ein ernstes Problem. Die Andersheit Gottes ist die spezifische Differenz des Monotheismus, der sich deswegen als Offenbarungsreligion begreift, weil er sich von der Religiosität der bedürfnisbefriedigenden selbstgemachten Götter absetzt. Darin liegt der Kern biblischer Aufklärung. Daher ist für die biblische Tradition Alterität weit mehr als ein bloßes Stilmittel. Sie zu markieren ist eine theologische Notwendigkeit. Wer den christlichen Kult begreifen will, muss ihm einen theologischen Ort verschaffen. Eine Medientheorie, die dieses Pensum erledigt hätte, steht noch aus. Es geht um die Legitimität des Sakralen.

Manche von denen, die die Tendenz von Mosebachs Buch ablehnen, halten dennoch den Titel für genial. Wenn Formlosigkeit eine Häresie sein soll, muss von der Form verlangt werden, dass sie orthodox, d. h. mit dem rechten Sinn erfüllt ist. Gerhards’ Vermutung, dass tatsächlich schon lange vor dem II. Vatikanischen Konzil und der Liturgiereform Pauls VI. der „Geist der Liturgie“ dem Kirchenvolk aber auch vielen Zelebranten abhanden gekommen sei, hat viel für sich. Vielleicht hatte sich die Form  tatsächlich so entleert, dass ihre nonverbale „Sprache“ nicht mehr verstanden wurde. Dies jedenfalls beklagt auch Josef Kardinal Ratzinger in seinem Buch von 2000, das heute wie eine Ankündigung des Motu proprio von 2007 gelesen werden kann. Schon im Titel beschwört es jenen bedrohten Geist der Liturgie.

Wie auch immer – die Prägung von der Häresie der Formlosigkeit schickt einen Erkenntnisblitz in die Szene, in dessen Licht  mit einem Schlag eine Schwäche des europäischen Christentums sichtbar wird. Unter einer Häresie ist im üblichen Sprachgebrauch die falsche Doktrin zu verstehen, der Lehrsatz oder die Theorie, die von einem Konzil oder dem kirchlichen Lehramt verworfen wurde. Dass eine pure Form bzw. deren Abwesenheit als Häresie bezeichnet wird, ist ein hellsichtiger Einspruch gegen die Reduzierung der christlichen Religion auf Theologie.

Der Theologie geht es in Deutschland und in Europa nicht schlecht, der christlichen Religion umso mehr. Der Blick auf das diskursive propositionale und doktrinale Christentum zeigt zunächst, dass die Zunft der Theologen eine erstaunliche Leistung erbracht hat. Sie hat es geschafft, eine Religion mit uralten Wurzeln und archaisch anmutenden Ritualen modernitätskompatibel zu machen. Immerhin! Das ist eine Leistung, deren Bedeutung man kaum übertreiben kann. Nur zögernd nimmt dies allerdings die Scientific community zur Kenntnis, wie der gegenwärtige Kulturkampf naturalistischer Naturwissenschaftler gegen die Kreationisten zeigt, die in Europa ein versprengtes Häuflein ohne jede Bedeutung sind. Vor allem die Philologie des christlichen Gründungsdokuments, die Exegese der Bibel, ist für alle Textwissenschaften maßstäblich geworden. Das hermeneutische Sektionsmesser ist scharf. Chirurgie kann heilen, aber jeder kennt auch ihr Risiko: Operation gelungen, Patient tot. In welchem Verhältnis steht das theologische Reden über Religion zu dieser selbst? Im Diskurs wird nicht gebetet. Er kann allenfalls das Gebet zum Thema machen. Theologie als Wissenschaft blickt nüchtern, vielleicht auch kalt.

Kann es sein, dass eine Liturgiewissenschaft zu kurz springt, die sich auf die Erforschung der historischen Einflüsse und Bedingtheiten beschränkt, und einzelne Riten nur an den doktrinalen Entsprechungen misst, auf die sie abgebildet werden können?

Der Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend unterscheidet die Beobachter- und die Teilnehmerperspektive. Aber es gibt auch manche Wissenschaften, die ihrem Gegenstand nur beikommen, wenn sie beide Perspektiven kunstvoll verbinden. Es sind Wissenschaften wie die Ethnologie, die den Menschen und seine Kulturen erforschen. Kulturwissenschaften haben Konjunktur. Sie erheben die teilnehmende Beobachtung zu ihrer eigentlichen Methode.

Wenn Formvernichtung ein dramatisches Kennzeichen von Modernisierung unter dem Beschleunigungsdruck ist, dann ist  die Häresie der Formlosigkeit kein Spezialproblem  einer katholischen Minderheit, sondern exzellentes Fallbeispiel für das Zurückbleiben von Theorie hinter dem Ganzen der Kultur, auf das sie sich beziehen muss.

Im Frankfurter Gespräch kritisieren Spaemann und Mosebach die Rolle der Liturgiewissenschaft. Gegen den Vorwurf, sie sei Schuld an der Misere kann Gerhards formal auf den Umstand verweisen, dass es schließlich die kirchliche Obrigkeit gewesen sei, die die Reform ins Werk gesetzt habe. Im Verlauf des Gesprächs wird deutlich, dass auch den Römern die eigendynamischen Reformen aus der Hand geglitten waren. Am Horizont taucht die Frage auf, ob die Liturgiewissenschaft als Theorie überhaupt ihren Gegenstand in der Hauptsache erfasst. Theorie hat einen Hang zur Selbstreferenz. Am liebsten bezieht sie sich auf andere Theorie, im Falle der Liturgiewissenschaft auf die doktrinale Theologie und die Ergebnisse historischer Forschung. Sie verwechselt, wie George Steiner 1990 in seinem bedeutenden Essay Von realer Gegenwart gezeigt hat, die sekundäre Welt der geschriebenen Sprache mit der Realität Nummer eins, auf die sie sich bezieht.

Wegen dieser selbstreferenziellen Versuchung sind die geisteswissenschaftlichen Anläufe besonders wichtig, die es im vergangenen Jahrhundert unternehmen, gerade diejenigen Hervorbringungen des menschlichen Bewusstseins zu erschließen, die nicht in der Form diskursiver Sprache, sondern in anderen kulturellen Manifestationen Gestalt angenommen haben. Hans Blumenberg sprach programmatisch von der „Lesbarkeit der Welt“. Dolf Sternberger (in seinem Panoramabuch) und Walter Benjamin (im sogenannten „Passagenwerk“) suchen unterschiedliche Wege, aus kulturellen Spuren etwa der Architektur oder der Mode, die Physiognomie des 19. Jahrhunderts zu erschließen. Ernst Cassirer, der systematische Philosoph, stellt die Wörtersprache nur als einen Spezialfall einer ganzen Palette symbolischer Formen dar. Seine Schülerin Susanne Langer spricht von „präsentativen Smbolen“. Der späte Ludwig Wittgenstein hat sein ganzes Bemühen unter die programmatische Frage gestellt: „Was heißt einer Regel folgen?“ Was heißt es, sich in einer Form zu bewegen?

Nicht jede Religion ist reflexiv, nicht jede gibt über ihre Praxis Rechenschaft. Aber in der katholischen Kirche hat eine Theologie, die der Vernunft verpflichtet ist, von Anfang an eine konstitutive  Bedeutung: Fides et ratio. Die Tradition von Reflexion und Aufklärung reicht bis in das Alte Testament und seine Religionskritik an den selbst gemachten Göttern zurück. Gleichzeitig waren biblische Gelehrsamkeit, Dogmatik und Philosophie über lange Jahre wie selbstverständlich eingelassen in kirchliche Lebensformen. Theologen waren fast immer auch Priester, die sich auf  einem  tiefen, nonverbalen Wurzelgrund des religiösen Exerzitiums bewegten. Dieser ist in der Kirche weitgehend unbegriffen.

Der Katholizismus ist eine echte Religion. Nichts wäre ihr fremder als Bonhoeffers Christentum ohne Religion. Es ist die Religion der Fleischwerdung des Geistes. In der Inkarnation, dem Fleisch gewordenen Wort, war der Geist leiblich geworden. In missionarischer Freundlichkeit hat diese Religion in der Spur der biblischen Aufklärung und Religionskritik gleichwohl heidnische Traditionsbestände selten verschmäht. Sein eigenes wortloses Alphabet hat der Katholizismus aus alten Kulturen und Kultdialekten zusammenbuchstabiert. Vom Duft des Weihrauchs nährten sich schon die olympischen Götter ebenso wie die aus Ägypten. Lange bevor die lateinische Christenheit die Geburt Jesu, des „Lichts der Welt“, an Weihnachten beging, feierten  auch die alten Völker des Nordens ihre Wintersonnenwende. Das Vaticanum II hat in seiner Konstitution „Lumen Gentium“ dem Begriff der Katholizität, der vielleicht nicht alles, aber doch vieles, was an Reichtümern in anderen Religionen anzutreffen ist, für integrierbar hält, eine neue Facette hinzugefügt.

Gewiss nicht alles, aber doch sehr Vieles aus allen Kulturen kann durch das Wasser der Taufe zum Glänzen gebracht werden. Die anthropogenen Riten, ein im Prinzip kontingenter, gut gemischter Synkretismus, gravitieren auf ein Zentrum hin. Sie orientieren und zentrieren sich auf Evangelium und Heilsgeschichte.

Was heißt einer Regel folgen? Wann ist ein Ritual verstanden? Christliche Verkündigung, die Predigt des Evangeliums und archaische Riten können in Parallelwelten leben, wie uns der Ethnologe Thomas Hauschild erklärt, der sich zum Zwecke der Feldforschung in den Stamm der Katholiken des tiefen italienischen Südens hatte aufnehmen lassen. Dort hat er magische Praktiken beobachtet, die weit in vorchristliche Zeiten zurückreichen. Dass theologische Reflexion und das philosophische Rechenschaft-Ablegen vom religiösen Exercitium voneinander abgekoppelt  werden, ist freilich erst in der Moderne zu beobachten.

Es erhebt sich die Frage, wie ein Diskurs beschaffen sein müsste, der seinem Gegenstand, der liturgischen Praxis angemessen ist? Was hat uns die Liturgiewissenschaft erklärt, wenn sie die historischen Abkünftigkeiten von Liturgien freilegt, die ihren Ursprung etwa im oströmischen Kaiserkult haben?

Im Frankfurter Gespräch spielte diese Frage eine wichtige Rolle. Sind Hinweise auf obskure und heute inakzeptable Ursprünge einzelner Riten oder liturgischer Formeln ein hinreichender Grund für ihre Eliminierung? Spaemann verweist auf den Soziologen Vilfredo Pareto, der von „Residuen“ und „Derivationen“ spricht, man könnte auch von semantischen Umbesetzungen oder Überschreibungen reden. Wenn von „Formen, Gesten, Texte(n)“ die Rede ist, „die längst die Anrüchigkeit ihres Ursprungs abgestreift und eine wirklich christliche Interpretation gefunden haben.“ (Spaemann)

Arnold Angenendt  hatte das Beispiel der Mundkommunion angeführt. So soll um das Jahr 800 herum die von Jesus Christus selbst zurückgewiesene Vorstellung von kultischer Reinheit bzw. Unreinheit wieder aufgewärmt worden sein. Der Pollutio-Gedanke, die Vorstellung, dass Sexualsekrete insbesondere Menstruationsblut unrein machten, habe zur Mundkommunion geführt, während - so später Albert Gerhards – in den ersten Jahrhunderten die gewandelte Hostie als Pharmakon gebraucht, wie ein Medikament eingenommen und sogar mit nach Hause genommen worden sei. Die Streitfrage ist also, was ein solches Ergebnis liturgiewissenschaftlicher Forschungen für  das heutige Verständnis bedeutet. Für Mosebach geht es einzig um Ehrfurcht  vor dem in den Leib Christi gewandelten Brot. Er ruft unterschiedliche Beispiele auf, wie etwa bei orthodoxen und koptischen Christen diese Ehrfurcht bezeigt wird.

Wir können diesen Streit präzisieren. Ist die Außenseite des Heiligen, ist der Ritus nur dann legitimiert, wenn er Ideen- oder Glaubensgut transportiert, wenn er als Funktion von Gedanken und Theorien erscheint, also etwas positiv Greifbares illustriert und sinnfällig macht? Oder ist die biblische Auffassung vom Heiligen nicht in entscheidender Weise von dem neuen Gott des Monotheismus geprägt, der von sich sagt: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und eure Wege sind nicht meine Wege“ (Jes 55,8).

Der monotheistische Qualitätssprung in der Religionsgeschichte besteht in der Verabschiedung der funktionalistischen Gottheiten, die allesamt als Verlängerung menschlicher Interessen und Bedürfnisse durchschaut und kritisiert werden (z.B. in Jes 44, im Buch der Weisheit und fast überall im Alten Testament). Der Gott dieser biblischen Aufklärung ist das Andere des Funktionalismus. Wenn von ihm nicht geschwiegen werden soll, dann muss die Art und Weise, wie seine Präsenz bezeugt wird, durch einen mitlaufenden Index dieser Andersheit ausgezeichnet sein.

Dieser Gedanke der Alteritätsmarkierung steht in tiefer Verbindung mit den ethischen Konsequenzen dieser Religion. Für das alte Israel ist Gott kein Teil der Welt, er ist ihr Schöpfer. Er bietet das Widerlager, mit dem auch die Menschen, die von ihm wissen ohne ihn zu sehen, sich abstoßen vom Ist-Zustand, dem status quo der Verhältnisse. Sie begreifen sich zwar als Teil der Welt, sind aber nach einem berühmten Wort nicht „von dieser Welt“ (Vgl. auch Röm 12,2). Der Gläubige ist auf radikale Weise nicht einverstanden mit der Welt, wie er sie vorfindet. Diese Negation, deren Bedeutung  oben schon angedeutet wurde, lehrt ihn einen Abstandsblick. Sie macht ihn zum Weltverbesserer, der aber weiß, dass er die letzte Macht nicht hat. Sie ist ihm in einer eschatologischen Gewaltenteilung vorenthalten. Allmächtig ist nur Gott.

Seit der biblischen Aufklärung ist die finale Entmächtigung der Mächtigen, der Gedanke der eschatologischen Gewaltenteilung in der Welt.

Seit neuzeitlich die westlichen Kulturen Fahrt aufgenommen haben, ist die katholische Kirche immer als der langsamste Tanker im Geleitzug erschienen.  Die nach Zeitgenossenschaft strebenden Katholiken und selbstverständlich alle Nichtkatholiken stöhnen über diese Langsamkeit. In vielen Fällen,  zum Beispiel im spektakulären Fall Galilei, gewiss zu recht. Die großen Avantgardebewegungen, als welche sich in unterschiedlicher Weise die Nationalismen des 19. Jahrhundert deswegen zu recht verstanden, weil sie für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte eintraten, sahen eine ultramontan antimoderne Kirche als Gegnerin. Der Nationalismus hat sich in der Folge allerdings keineswegs als segensreich erwiesen. Im Gegenteil. Im Zeitalter der Globalisierung wirkt er wie eine ansteckende europäische Krankheit. Auch die großen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts begriffen sich regelmäßig als Avantgarden. Besonders die NS-Bewegung und der Kommunismus haben die langsame Kirche immer als Gegnerin betrachtet. Das Abstandhalten zur jeweils regierenden Moderne gereicht dem Katholizismus in der Tradition der biblischen Aufklärung bei aller Scham über antimodernistische Versteifungen aus heutiger Sicht durchaus zur Ehre. Sie ist das Ergebnis ihrer Fermentierung mit Weltlosigkeit. Es ist die göttliche Vorenthaltung, die nach Ausdruck sucht. Ihre genuine Sprache ist nicht die Theologie, sondern die Liturgie. Ihr Wesensgrund ist das Nicht-Selbstgemachte, das mit Funktionalismen nicht Verwechselbare. Dies ist der zentrale Gedanke Benedikts XVI. in seinem Buch Der Geist der Liturgie. Das sei denen zu bedenken gegeben, die auf schnelle Anpassung und die Unfehlbarkeit von Machbarkeiten setzen. Langsamkeit ist freilich kein katholisches Dogma. Sie ist überhaupt nichts Doktrinales. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass Katholiken wie alle Christen in Fragen der Gerechtigkeit und der sozialen Verantwortung, der Bildung  und vielen anderen ethischen und politischen Fragen entschlossen und schnell agieren sollen. Dass sie es tun, auch dafür gibt es viele Beispiele, Gott sei auch dafür Dank.

Aber dort, wo sich die christliche Gemeinde über sich selbst verständigt und sich als solche erlebt, im Gottesdienst also, kommt es entscheidend auf die Markierung von  Alterität, die Zeichensprache des Abstands an.

Benedikt XVI. sieht das Schwinden der sakralen Zeichensysteme keineswegs als den schicksalhaft zu entrichtenden Preis für die Anpassung an die Moderne an. Der durchaus freundliche Blick, den neuerdings Jürgen Habermas auf das religiöse Erbe wirft, sieht aber gerade in den kultischen Resten der Religion einen Negativposten: „Die religiösen Diskurse sind einer rituellen Praxis verschwistert, in der die Freiheitsgrade der Kommunikation im Vergleich zur profanen Praxis des Alltags auf eine spezifische Weise eingeschränkt sind. Wenn man eine funktionalistische Betrachtungsweise zulässt, wird der Glaube durch seine Verankerung im Kultus gegen eine radikale Problematisierung abgeschirmt. Diese tritt unvermeidlich ein, wenn sich die ontischen, normativen und expressiven Geltungsaspekte, die in der Konzeption des Schöpfer- oder Erlösergottes, der Theodizee und des Heilsgeschehens fusioniert bleiben müssen, von einander trennen“. (Jürgen Habermas, „Exkurs: Transzendenz von innen, Transzendenz ins Diesseits.“, in Texte und Kontexte, Frankfurt/M. 1991, S.137).

Der Gott der Bibel offenbart sich. Die berühmteste Offenbarungsszene erzählt das dritte Kapitel des Buches Exodus.  Das „Ich bin da“ der Stimme, die Mose hört, ist ein Hapax, eine semantische Singularität, denn es ist der große Singular, der hier spricht. Es geht nämlich um die im strengen Sinn singuläre Möglichkeit, da zu sein, ohne ein Ding in der Welt zu sein: Nicht-empirische Anwesenheit! So tragen alle Offenbarungsszenen der Bibel den Index einer Alterität, die zeigt, dass Gott sich gleichzeitig offenbart und vorenthält. Der Dornbusch brennt und verbrennt nicht, die leuchtende Wolke zeigt den Weg, aber sie verhüllt auch, und so überall, wo Gott sich offenbart und sich gleichzeitig vorenthält.

Habermas` Bestreben, die Religion freundlich aber radikal zu funktionalisieren, reduziert den Gott Abrahams Isaak und Jakobs auf einen Lieferanten von Ideen, auf die man notfalls auch ohne ihn gekommen wäre.

Kult und Ritus schirmen nicht gegen radikale Problematisierung ab, sie sind vielmehr ihr Ausdruck. Der biblische Gott ist das Andere des Funktionalismus.

Im Frankfurter Gespräch hatte der Moderator am Ende um eine Prognose gebeten. Wird der alte Usus, die sogenannte „tridentinische Messe“, die ihre Liebhaber neuerdings als „Messe Gregors des Großen“ bezeichnen, eine breite Renaissance erleben? Es sieht nicht danach aus. Zwar wird es eine Schar Besonderer und des Lateinischen halbwegs Kundiger geben. Vielleicht wird sie beachtlich sein, vielleicht auch nicht. Spaemann stellt fest, ihr Altersdurchschnitt liegte deutlich unter dem der sonntäglichen Kirchenbesucher. Aber Martin Mosebach ist durchaus skeptisch. War dann alles nur Windhauch?

Das Motiv für das päpstliche Motu proprio kann nicht ernsthaft auf eine solche Renaissance zielen. Dazu sind die positiven Erfahrungen, die auch mit der neuen Messform vielfach gemacht werden, gerade bei frommen Priestern und mitfeiernden Gläubigen zu fest verankert. Fast zwei Generationen kennen überhaupt nur diese. Aber von einer Reform der Reform war in Frankfurt mehrfach die Rede. Ob sie die Zelebrationsrichtung betrifft, bei der sich der Priester nicht nur der Gemeinde zuwendet und sich etwa beim Hochgebet zusammen mit der Gemeinde betend vor Gott stellt, ob es zur häufigeren Verwendung der lateinischen Sprache beim Hochgebet kommt – das bleibt abzuwarten. Wichtiger aber als alle Details wäre für alle Beteiligten ein Wandel in der Mentalität.

Die wichtigste und für wohl alle Teilnehmer des Gesprächs wünschenswerte Wirkung der Intervention Benedikts XVI. wäre die generelle Aufwertung der Liturgie. Dies bedeutete für die Priester eine größere Aufmerksamkeit und Sorgfalt bei der ars celebrandi, der Kunst auf rechte Weise, die heiligen Geheimnisse zu feiern. Dafür wäre eine deutliche Verbesserung der liturgischen Priesterausbildung eine wichtige Voraussetzung. Das Fach Liturgik wäre dann nicht nur Wissenschaft, sondern zuerst eine Kunstlehre. Aber auch beim „gläubigen Volk“ könnte das Bewusstsein wachsen für die Notwendigkeit einer Alphabetisierung in der nonverbalen Sprache der Heiligung: „How to do things without words“: Meta-Praxis ohne Worte. Von dem Volk, das sich heiligt, redet das Alte Testament immer wieder. Riten – zu ihnen gehört auch das Beten by heart, auswendig und „mit dem Herzen“ – machen Heiligung lehrbar und lernbar.

Von der actuosa participatio, der tätigen Teilnahme der Gläubigen, war nach dem Konzil viel die Rede, im Frankfurter Gespräch bietet Robert Spaemann seine Deutung an. Es kommt ihm vor allem auf eine innere Beteiligung der Laien an. Sie wird nicht dadurch verbessert, dass einzelne mehr liturgische Dienste übernehmen.

Schöne alte Kirchen stehen im Verdacht, zu Museen zu mutieren. Die Flaneure streichen besichtigend herein, stecken manchmal den Kopf in die den Betern vorbehaltene Seitenkapelle mit dem Allerheiligsten, schrecken vielleicht zurück. Immer öfter aber zünden sie vor einer Madonna ein Wachslicht an. Sie liegen im Trend einer angesagten aber diffusen „Wiederkehr der Religion“, für die „Spiritualität“ der begriffliche Alleskleber ist. Das Museum, der „Musentempel“, galt in seiner Gründerzeit als ein Produkt von Säkularisation. Inzwischen ist die Szene offenbar offen.

Was ist eine Kirche? Es wäre schon viel gewonnen, wenn man die Kinder und nicht nur sie lehrte, wie eine Kirche zu betreten sei, dass man Weihwasser nimmt, sich besinnt und reinigt, wenn man eintritt, dass man sich dort anders benimmt, still ist. Wenn man ihnen zeigte, wann und warum man steht, kniet, kurz, was es heißt, einer Regel zu folgen, genauer, den Regeln, die zur Indizierung von Andersheit in Kraft gesetzt sind.


Dem Frankfurter Gespräch folgte ein höchst engagiertes Publikum, das sich mit heftigem Beifall mal für die eine, mal für die andere Seite in zwei Lager spaltete. Umso bemerkenswerter war die irenische und versöhnliche Grundhaltung der Disputanten selbst, die sich zum Ende hin bemerkbar machte. Angenendt: „Ich habe mir vorgenommen: Ich mache keinen Streit wegen Liturgie“. Ein parteiübergreifendes Interesse an der Überwindung des Lagerdenkens war zu bemerken. Nach Benedikt XVI. kennt die lateinische Kirche nunmehr zwei Weisen die Messe zu feiern, der Ritus soll aber im Grunde ein und derselbe sein und der „Geist der Liturgie“ für gegenseitige Anerkennung sorgen. Am Ende kam Wind auf.

Das Gespräch fand am 20. August 2007 im Frankfurter Haus am Dom statt.

 

 


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